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Finde mich. - Jetzt Page 6


  Gerade bin ich auf dem Weg in einen Kellerraum, in dem mein Seminar über Kriminalliteratur von ihren Anfängen bis heute stattfindet. Ich finde ihn zu meiner Überraschung auf Anhieb, sodass ich den Raum noch für mich habe.

  Es ist ein kleiner Seminarraum. Die Tische sind zu einer Insel zusammengeschoben, wodurch automatisch die Atmosphäre einer Gesprächsrunde entsteht. Ich setze mich zuerst in die Mitte. Allerdings komme ich mir auf diesem Platz nach ein paar Minuten vor wie auf dem Präsentierteller und ziehe noch mal um. Ich lege meinen Notizblock vor mich und krame in meiner Tasche nach einem Kugelschreiber. Als ich wieder aufblicke, steht Sam in der Tür.

  »Hi!«, sage ich erfreut.

  »Kriminalliteratur, hm?«, fragt er und betritt den Raum. Als ich ihn verwundert ansehe, sagt er: »Ich schreibe meine Promotion bei Professor Armitage. Ab und zu hole ich für sie Bücher aus der Bibliothek.« Bei diesen Worten legt er einen Bücherstapel ans Kopfende der Tischinsel. Ich bin erleichtert, dass ich mich nicht aus Versehen dorthin gesetzt habe.

  »Bleibst du für das Seminar?«, frage ich. Irgendwie hoffe ich es, denn ich fühle mich als Neuling ein bisschen unwohl.

  »Keine Zeit, leider. Aber es ist sicher spannend. Armitage ist großartig.« Er zwinkert mir zu, und ich lächle zurück.

  Als Sam den Raum schon längst verlassen hat, lächle ich immer noch. Es ist schön, einen Freund zu haben.

  Langsam füllt sich der Raum. Einen Studenten kenne ich bereits aus meinem Einführungsseminar in die Literaturgeschichte, aber er blickt nicht auf. Zwei überschminkte Mädchen, die vermutlich aus einem höheren Trimester sind, unterhalten sich über anstehende Studentenpartys. Ein blasser, ernster Kerl liest eine Interpretation von Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Ein paar Studenten tippen auf ihren Handys rum.

  Als Professor Armitage eintritt, eine grauhaarige, streng dreinblickende Dame, sehen alle auf und unterbrechen sofort, was auch immer sie gemacht haben. Sie scheint eine natürliche Autorität zu besitzen.

  »Herzlich willkommen zu meinem Seminar über Kriminalliteratur. Diejenigen von Ihnen, die mich schon kennen, wissen, dass es viel Arbeit wird. Allen anderen kann ich nur raten: Wenn Sie nicht motiviert sind, hart zu arbeiten, ist es besser, wenn Sie jetzt Ihre Sachen packen.«

  Der blasse Typ sieht besorgt aus. Ich versuche, mich auf meinem Stuhl ganz klein zu machen. Ich bin motiviert, aber ich weiß nicht, ob meine Art der Motivation für Professor Armitage ausreicht.

  »Kriminalgeschichten. Was wissen Sie darüber?«, fragt sie in die Runde.

  Eine Studentin meldet sich und sagt: »Kriminalgeschichten folgen alle einem Urmuster. Es wird immer etwas anderes in gleicher Art und Weise geschildert. Nach Genette nennt man das ›Nachahmung‹.«

  Ich verstehe nur die Hälfte, mache mir aber trotzdem Notizen.

  »Sehr richtig«, sagt Professor Armitage. »Ich blicke hier in einige fragende Gesichter. Alle, die die Leseliste noch nicht haben, sollten sie sich schleunigst herunterladen und zusehen, dass sie aufholen.«

  Ich mache mir sofort eine Notiz. Ich hatte keine Ahnung, dass es zu diesem Seminar vorab eine Leseliste gab.

  Professor Armitage wirft für den Rest der Stunde mit Fachbegriffen um sich. Ich notiere mir die verschiedenen Phasen, aus denen die analytische Spannung aufgebaut ist. Dann exerziert sie die Phasen anhand von Edgar Allan Poes Der Doppelmord in der Rue Morgue durch. Ich hänge an ihren Lippen. Es ergibt alles Sinn, was sie sagt, auch wenn ich nicht erwartet hätte, dass Kriminalliteratur so theoretisch sein kann. Sie springt zur Figur des »Great Detective«.

  Am Ende der Doppelstunde sagt sie: »Bis zum nächsten Mal schreiben Sie bitte einen zweiseitigen Essay über mindestens drei dieser ›Great Detectives‹. Stellen Sie anhand Ihrer Beispiele eine Liste der wichtigsten Charakteristika dieser für unser Seminar so wichtigen Figur auf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Bis nächste Woche.«

  Als sie den Raum verlassen hat, blicke ich vorsichtig in die Runde. Nicht alle sehen so verzweifelt aus, wie ich mich fühle, aber zumindest der Kerl aus meinem Einführungsseminar wirkt auch etwas hilflos.

  Ich bin erst ein paar Tage an der Uni und schon muss ich eine Vorlesung schwänzen. Ich habe Zelda gebeten, für mich mitzuschreiben. Meine Matratze soll geliefert werden, und der Termin ist alles andere als präzise. Zwischen vierzehn und achtzehn Uhr soll ich zu Hause sein. Also sitze ich auf meinem Sessel und lese mir einen Essay für ein Seminar durch, während ich auf den Lieferdienst warte. Ich unterstreiche wichtige Passagen und mache mir Notizen auf einem Block. Ich bin so vertieft, dass ich erschrecke, als es an meiner Tür klingelt.

  Ich betätige den Türöffner, aber auch nach zwei Minuten kommt niemand die Treppe hoch. War es falscher Alarm? Mein Rücken und ich können das Risiko nicht eingehen, dass sie wieder fahren. Deswegen schlüpfe ich schnell in meine Schuhe, um unten nachzusehen. Ich kann meinen Schlüssel in der Eile nicht finden und stelle einen Karton in die Tür.

  Auf der Straße parkt ein großer weißer Lieferwagen, und zwei Männer wuchten ein eingeschweißtes Ungetüm von Matratze heraus. Ich winke ihnen zu und halte die Tür auf. Doch der Größere von beiden schüttelt den Kopf. Was meint er?

  Nachdem sie die Matratze sicher aus dem Wagen auf die Straße befördert haben, kommt der Kleinere auf mich zu, der bislang mit dem Rücken zu mir gestanden hat. Er hat ein Formular dabei und hält es mir zur Unterschrift hin.

  »Es ist im zweiten Stock«, sage ich und lege die alte, abgewetzte Fußmatte aus dem Hausflur in die Tür, damit sie nicht zufällt.

  »Wir liefern nur bis zum Haus. Du musst die Matratze selbst hinauftragen. Dafür werden wir nicht bezahlt und sind auch nicht versichert«, sagt der Mann.

  Habe ich richtig gehört? Soll ich die Matratze, die die beiden nur mit Mühe aus dem Wagen heben konnten, allein die Treppe hochtragen? Das wäre ja, wie wenn eine Ameise meine Büchertasche in den zweiten Stock tragen würde. Und Ameisen können – im Gegensatz zu mir – immerhin ein Vielfaches ihres Körpergewichts tragen!

  »Könnten Sie vielleicht eine Ausnahme machen?«, versuche ich es. »Ich bin allein, wissen Sie.«

  »Tut mir leid, Süße. Dürfen wir nicht«, sagt er und dreht sich um. Er steigt zu seinem Kollegen in den Lieferwagen, und weg sind sie.

  Okay. Was weiß ich über Kraftwandler? Hätte ich nur in Physik besser aufgepasst. Schiefe Ebenen sind gut, Flaschenzüge noch besser. Aber ich habe weder eine schiefe Ebene noch einen Flaschenzug. Und die Matratze lehnt an der Hauswand und wird sich sicher nicht von selbst bewegen. Wenn sie wenigstens Griffe hätte!

  Ich zerre an der Plastikhülle, aber die Matratze bewegt sich höchstens ein paar Zentimeter. Also stemme ich mich im nächsten Anlauf von der anderen Seite dagegen. Das funktioniert schon besser, und es gelingt mir, sie bis vor die Türschwelle zu schieben. Hier komme ich nicht weiter. Ich laufe wieder auf die andere Seite und versuche, sie auf die etwa zwanzig Zentimeter hohe Stufe zu heben. Ich bekomme sie auch hoch genug, aber dann beginnt die Matratze, bedrohlich zu schwanken. Ich will sie mit aller Macht festhalten, komme dabei aber selbst aus dem Gleichgewicht, sodass ich die Matratze loslassen muss. Mit einem erstickten Wumms fällt sie auf den Gehweg und wirbelt eine mächtige Staubwolke auf.

  »Verdammt!«, brülle ich. Wenn sich die Matratze wenigstens in den Hausflur bugsieren ließe, könnte sie erst mal dort stehen und ich könnte Sam um Hilfe bitten. Aber ich will sie nicht einfach auf der Straße lassen, für den Fall, dass ein sehr kräftiger Matratzendieb vorbeikommt. Ich wäge die Wahrscheinlichkeit ab. Vermutlich gibt es einen solchen Dieb nicht, aber ich will das Risiko trotzdem nicht eingehen.

  »He!«, höre ich eine Stimme von der anderen Straßenseite. Es ist Rhys, der vor dem Café steht und raucht. »Kann es sein, dass du Hilfe brauchst?«, fragt er.

  »Gut erkannt, Sherlock«, rufe ich zurück. »Würdest du Captain Ahab in seinem Kampf gegen Moby Dick helfen?«

  »Du scheinst dich öfter zu übernehmen«, sagt er, schlendert aber tatsächlich über die Straße. Er nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette und schnippt sie dann gekonnt unter ein parkendes Auto.
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  »Ich kann eigentlich nichts dafür, dass ich in dieser Situation bin. Der Lieferdienst wollte mir nicht helfen.«

  Rhys brummt etwas und richtet dann die Matratze wieder auf. »Und dann hat die Matratze dir ein Bein abgerissen, und jetzt kommst du nicht mehr von ihr los und jagst sie durch die Meere?«, fragt er, und ich bin völlig perplex. Hat er etwa Moby Dick gelesen? Bevor ich noch fragen kann, sagt er: »Willst du schieben oder ziehen?«

  »Lieber ziehen, glaube ich. Es ist sicher sinnvoller, wenn der Stärkere schiebt.«

  Gekonnt hievt er Moby Dick über die Schwelle, und ich ziehe am vorderen Ende, sodass wir in null Komma nichts im Haus sind. Rhys hebt die Matratze noch ein Stück an, und schon sind wir auf der Treppe. Ich ziehe, er schiebt von unten. Stufe um Stufe nähern wir uns dem ersten Stock. Eine Herausforderung ist die Kurve auf halber Höhe des Treppenabsatzes. Aber Rhys drückt die Matratze einfach um die Biegung, als wäre da gar kein Widerstand.

  »Wow«, sage ich und klatsche, als wir einen Moment innehalten, um unsere Arme auszuruhen. »Wie praktisch, dass du so stark bist.«

  »Praktisch. Ja, genau«, antwortet er und schiebt dann in einem fast gehässigen Ton hinterher: »Wie schön für dich, dass ich so praktisch bin.«

  Was habe ich denn nun schon wieder gemacht? Ich sage nichts mehr, sondern ziehe wieder an der Matratze, während er sich mit seinem Gewicht von unten dagegenstemmt.

  Als wir im zweiten Stock ankommen, fragt er: »Lässt du deine Tür immer offen?«

  Mir gefällt sein genervter Ton nicht. Deswegen sage ich: »Danke, den Rest schaffe ich jetzt auch allein.«

  »Ach ja?« Er hat schon den kleinen Flur durchquert und steht in meinem Zimmer. »Und wie willst du die alte Matratze loswerden?«

  »O nein!« Daran hatte ich gar nicht gedacht. Natürlich, das scheußliche Ding ist ja auch noch da. Ich sehe ihn mit meinem flehendsten Blick an und frage: »Vielleicht kannst du mir damit auch noch helfen?«

  »Vielleicht kann Amy die brauchen«, sagt er und macht sich daran, die neue Matratze auf die Seite zu schieben.

  Gemeinsam tragen wir das alte Teil in den Hausflur, wo ich sie erst mal stehen lasse. Sie hat scheußliche Flecken und ich bin froh, dass ich sie los bin.

  »Die war übrigens schon so«, sage ich zu Rhys, weil es mir plötzlich peinlich ist, dass er glauben könnte, beim Schlafen würden diverse Körpersäfte unkontrolliert aus mir austreten.

  Er würdigt meinen Kommentar mit einem Brummen und schiebt Moby Dick in mein Zimmer. Dort befreien wir ihn von der Plastikhülle. Rhys lässt die Matratze einfach auf das Bettgestell fallen und rückt sie noch zurecht. Perfekt!

  Ich setze mich sofort darauf, schlage die Beine übereinander und beginne zu wippen, um auszutesten, wie weich mein neues Bett ist. Es fühlt sich herrlich an. Wäre mein Rücken eine Katze, er würde jetzt schnurren.

  »Komm, probier’s mal aus«, sage ich und klopfe neben mich auf die Matratze. Erst denke ich mir nichts dabei, dann kommt es mir aber doch seltsam vor, dass ich einen eigentlich Fremden einlade, mein Bett Probe zu liegen.

  Rhys zögert kurz, lässt sich dann aber tatsächlich neben mich plumpsen und nach hinten umfallen. »Ja, die ist sehr bequem. Und gar nicht mal fleckig«, sagt er. Er richtet sich wieder auf und sieht mich an. Dann lächelt er. Ich weiß nicht, ob ich ihn schon mal lächeln gesehen habe. Sein hartes Gesicht wird dadurch gleich viel sanfter. Dann schließt er kurz die Augen, und das Lächeln ist wieder verschwunden.

  »Vielen Dank für deine Hilfe. Ich hätte echt nicht gewusst, wie ich dieses Monster hier allein hätte hochschaffen sollen«, sage ich.

  »Captain Ahab hatte schließlich auch seine Crew«, erwidert er. »Wichtig ist nur, dass wir das Biest bezwungen haben.«

  Kann es sein, dass er langsam etwas auftaut?

  8 Rhys

  Habe ich gerade einen Witz gemacht? So muss es wohl sein, denn Tamsin kichert.

  »Hast du etwa Moby Dick gelesen?«, fragt sie.

  Ich zucke mit den Schultern. Sie muss nicht wissen, dass ich den Roman das erste Mal mit sechzehn gelesen habe und dann noch einmal vor einem Jahr. Dass ich selbst einen weißen Wal hatte, gegen den ich ankämpfen musste – und vermutlich immer noch ankämpfen muss. Allerdings war meiner real und gefährlich. Vielleicht sogar lebensgefährlich. Man sieht es mir auf den ersten Blick nicht an. Einen zweiten Blick lasse ich nicht zu.

  »Kann ich dir zum Dank für deine Hilfe eine Cola anbieten?«, fragt Tamsin. »Eiskalt, ich habe den Kühlschrank zum Laufen gebracht.« In ihrer Stimme schwingt fast ein wenig Stolz mit.

  Ich überlege. Liz hat im Café sicher alles im Griff. Als ich auf eine Zigarette vor die Tür gegangen bin, waren alle Gäste versorgt. Der Mittagsansturm müsste eigentlich vorüber sein. »Also gut, warum nicht«, sage ich und verbuche es unter »Erfahrungen sammeln« für mein zukünftiges Leben.

  Tamsin steht auf. Die Küchenzeile ist gegenüber vom Bett, und als sie sich bückt, um die Getränke zu holen, rutscht ihre 80er-Jahre-Jeans nach unten und entblößt den lilafarbenen Spitzenrand ihrer Unterwäsche. Ich bin mir sicher, dass ich die Farbe ihres Slips nicht kennen sollte, und wende den Blick ab. Mein Herzschlag hat sich beschleunigt. Ich habe nicht mehr mit einem Mädchen allein in einem Zimmer gesessen, seit ich fünfzehn war! Mir fällt Alyssa ein. Sie muss die Letzte gewesen sein. Sie ließ die Jungs beim Knutschen unter ihr T-Shirt fassen. Ich schaue auf meine Hände und kann kaum glauben, dass ich damit wirklich Alyssas Brüste berührt haben soll. Je länger ich auf meine Finger starre, desto größer, unbeholfener und grober kommen sie mir vor. Es sind keine Hände, von denen irgendjemand berührt werden will.

  Meine Gedanken machen mich nervös. Als Tamsin sich wieder neben mich setzt und die Matratze leicht wippt, bin ich mir ihrer Nähe viel zu sehr bewusst. Ich rieche ihren Duft, und ihre offenen Haare schimmern in der hereinfallenden Nachmittagssonne in verschiedenen warmen Brauntönen. Kurz muss ich mich daran erinnern, wer ich bin, um nicht meine Hand danach auszustrecken. Stattdessen nehme ich dankbar die Cola, die sie mir hinhält, und drücke mir die eiskalte Flasche gegen meine heiße Stirn.

  Ich räuspere mich, und um von mir abzulenken, frage ich mit Blick auf ein gerahmtes Foto: »Ist das dein Bruder?«

  »Sam? Nein, das ist mein bester Freund. Er ist der Grund, warum ich hier bin.«

  »Wie meinst du das?« Die Frage kommt sehr schnell und ich wundere mich darüber, dass das alte Foto eines Jungen, der kaum älter als zwölf sein kann, bei mir so etwas wie Wut auslöst.

  »Na ja, eigentlich bin ich aus Maine. Aber Sam ist hier an der Uni. Deswegen habe ich mich hier beworben. Und als ich angenommen wurde und zu Hause alles ein bisschen anders kam, als ich geplant hatte …« Sie beendet den Satz nicht.

  »Was hattest du denn geplant?« Ich will eigentlich nicht so neugierig sein, aber jetzt interessiert mich doch, was genau anders gelaufen ist. Ich lasse mich nach hinten sinken und stütze mich auf die Ellbogen. Unwillkürlich gleitet mein Blick dabei noch mal auf ihren Hosenbund, doch man sieht nur noch einen dünnen Hautstreifen dort, wo das T-Shirt nicht ganz bis zur Hose reicht.

  Sie dreht sich zu mir um und grinst. »Interessiert dich das wirklich oder fragst du nur aus Höflichkeit?«

  »Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst. Ich dachte, du stehst auf Small Talk.«

  »Es ist zwar nicht direkt Small Talk, aber es ist auch kein Geheimnis. Allerdings wirkst du eben nicht unbedingt wie jemand, der sich für andere Leute interessiert.«

  Da ist was dran. Ich ziehe aber trotzdem auffordernd meine Augenbrauen hoch, und sie seufzt theatralisch.

  »Na schön. Ich hatte einen Freund. Wir waren drei Jahre zusammen. Wir wollten in eine gemeinsame Wohnung ziehen, ich sollte in Maine studieren. Aber dann hat er mich betrogen. In der gleichen Woche ist mein Großvater gestorben. Das Letzte, was er zu mir gesagt hat, war, dass ich das Leben voll auskosten soll. Und deswegen bin ich nach Kalifornien gekommen.«

  Sie rattert das alles sehr schnell runter und scheint erleichtert zu sein, dass es raus ist.

  »Oh«, sage ich. Hätte ich geahnt, dass es um etwas so
Persönliches geht, hätte ich vermutlich nicht nachgefragt. Was für eine blöde Situation schon wieder. Sollte ich etwas sagen?

  »Du musst dazu nichts sagen. Ich versuche, nicht mehr dran zu denken. Die Sache mit Dominic, so heißt der Penner, ist mir eben passiert, aber sicher nur dieses eine Mal. Männer können mir gestohlen bleiben.«

  »Es sei denn, du brauchst Hilfe beim Tragen von schweren Gegenständen«, wende ich ein, denn ich habe das Gefühl, dass nebeneinander auf einer neuen Matratze zu sitzen und Cola zu trinken, nicht unbedingt das ist, was andere unter »gestohlen bleiben« verstehen.

  »Ich verbiete mir natürlich nicht grundsätzlich den Umgang mit dem anderen Geschlecht. Aber es bleibt eben rein platonisch. Schließlich ist nichts dagegen zu sagen, Junggesellin zu sein. Bei Männern ist diese Lebensform sogar sehr anerkannt. Warum also nicht auch bei Frauen?«

  Darauf weiß ich keine Antwort und nehme einen Verlegenheitsschluck aus meiner Cola, damit sie keine Reaktion von mir erwartet.

  »Viele meiner liebsten Autorinnen waren ihr Leben lang allein. Jane Austen, Louisa May Alcott, Emily Dickinson. Der Kreativität scheint es also nicht zu schaden.« Sie hält einen Moment inne. Dann: »Dass es aber auch so schwer sein kann, seinen Schwanz in der Hose zu behalten!«

  Ich schnaube. Sie kann ja nicht wissen, dass ich meinen Schwanz die letzten Jahre in der Hose behalten habe.

  »Und du?«, fragt sie jetzt leiser. »Was ist deine Geschichte?«

  Bei diesen Worten lässt auch sie sich nach hinten fallen und dreht mir das Gesicht zu. Sie ist mir jetzt fast zu nah, und ich bin versucht, mich wieder aufzusetzen. Doch dann entscheide ich, dass ich ihre Nähe aushalten werde, und bleibe, wo ich bin.

  »Ich habe keine Geschichte«, sage ich.

  »Ach komm, jeder hat eine Geschichte!« Sie lässt nicht locker. »Wo kommst du zum Beispiel her?«

  »Aus Pearley. Geboren, aufgewachsen. Allerdings in einem Teil der Stadt, in den du dich nicht verirren solltest.«

  »Gibt es in Pearley Viertel, die wirklich gefährlich sind?«, fragt sie ungläubig.