Free Novel Read

Finde mich. - Jetzt Page 4


  »Wissen Sie zufällig, ob es hier in der Nähe ein Internetcafé gibt?«, frage ich und ziehe noch mal an meiner Zigarette.

  »Ein Internetcafé?«, wiederholt er ungläubig, und als ich nicke, sagt er: »Hier an der Hauptstraße können sich solche Läden die Miete nicht mehr leisten. Siehst ja, was hier gefragt ist.« Er deutet auf die Bars und Restaurants. »Aber in dieser Richtung kommt da hinten auf der rechten Seite ein Computerladen, der auch Internet anbietet.«

  Ich bedanke mich und er nickt mir zu, als er zurück in die Bar geht.

  Der Angestellte der PC World weist mir einen Computer zu und ich mache mich gleich daran, meine im Gefängnis erlernten Internet-Fähigkeiten auszuprobieren. Doch ich stelle schnell fest, dass die Kurse, die uns angeboten wurden, nicht sonderlich nützlich waren. Ich kann immerhin mit Suchmaschinen umgehen und vertiefe mich in Artikel über das Auffinden von Personen. Daraufhin erstelle ich mir erst eine eigene E-Mail-Adresse und im Anschluss Profile in sozialen Netzwerken. Als sie mich damals mitnahmen, hatten wir zu Hause keinen Computer. Deswegen ist es nun das erste Mal, dass ich mich überhaupt mit sozialen Netzwerken befasse. Ich gebe nicht viel über mich preis, habe ja nicht einmal ein Foto von mir. Nacheinander tippe ich die Namen meiner Familie in die verschiedenen Suchmasken. Doch nachdem keiner der Namen einen Treffer erzielt, beschließe ich, dass ich systematischer vorgehen muss. Das Internetcafé kostet zu viel Geld, als dass ich hier meine Zeit verplempern könnte. Ich muss mir eine Liste mit Namen von früher machen. Ich hoffe, mir fallen genug ein. Denn bisher ist mir noch keine bessere Idee gekommen, um herauszufinden, wo er sie hingebracht hat.

  Meine ersten Schichten in Mal’s Café sind in Ordnung. Meistens ist Ollie da und übernimmt die Kunden. Ich beobachte, wie sie mit den Gästen redet, ihnen einen schönen Tag wünscht, sie willkommen heißt. Sie redet ansonsten nicht viel, das gefällt mir. Ihr ganzes Gesicht ist gepierct, sie hat schwarze, kurze Haare und trägt einen Undercut. Ihre Jeans sind zerrissen und ihre T-Shirts ausgeblichen. Sie wirkt, als hätte sie schon einiges erlebt, und vermutlich ist sie deswegen nicht gesprächig. Sie fragt mich nichts, ich frage sie nichts. So kann es weitergehen.

  Auch Liz ist okay. Alle sind freundlich zu mir, nur ich kann nicht aus meiner verdammten Haut. Meine Haut, die beinahe taub ist. Es gibt Momente, in denen es mir leidtut, dass sich alle Mühe geben und ich nichts erwidern kann. Aber dann merke ich, wie es mir doch egal ist.

  Amys Besuche, die in dieser ersten Woche mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit erfolgen, strengen mich an. Sie erwartet von mir, dass ich mit ihr spreche. Sie fragt viel.

  »Geht es dir gut, Rhys?«

  Achselzucken.

  »Hast du dich schon eingelebt?«

  Blick auf den Boden.

  »Wie ist der Job?«

  »Okay.«

  »Kommst du mit den anderen klar?«

  »Ja.«

  »Brauchst du etwas?«

  Erneutes Achselzucken. Ich habe kaum Antworten für sie. Woher weiß ich, ob es mir gut geht? Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, sich eingelebt zu haben. Komme ich klar? Ich lebe noch, das sollte als Antwort genügen.

  Manchmal bin ich kurz davor, ihr von meinem Plan zu erzählen und sie um Hilfe zu bitten. Aber ich habe Angst, dass sie versucht, ihn mir auszureden, und mich dann noch strenger überwacht. Ich könnte ihre Hilfe gut brauchen, denn die Sorge schnürt mir die Luft ab.

  Um wenigstens irgendwas zu sagen, habe ich ihr erzählt, dass ich mir einen Laptop kaufen will, damit ich nicht auf Internetcafés angewiesen bin. Sie war völlig aus dem Häuschen, faselte etwas von Zielen, die gesund seien. Sie bot an, einen Bekannten zu fragen, der gebrauchte Laptops verkauft. Regelmäßig sagt sie, wie froh sie ist, dass ihr Projekt Kapazitäten für mich hatte. Bin ich froh darüber? Vielleicht. Vielleicht ist sie nützlich. Vielleicht ist es gut, jemanden hier draußen zu kennen.

  Am Freitagmorgen arbeite ich wieder im Café. Ich bin mit Che alleine. Er erzählt mir von seiner großen Leidenschaft, dem Bierbrauen, und fragt mich, ob ich eins von seinen Stouts probieren will. Ich weiß nicht einmal, was das ist, aber er ist Feuer und Flamme und erklärt mir, dass es sich um eine schwere schwarze Biersorte handelt. Er faselt etwas von Malzgehalt und ich verspreche ihm, sein Bier zu probieren. Vor allem, damit er mich wieder in Ruhe lässt.

  Später, kurz vor Feierabend, soll Ollie noch kommen, um die Kasse zu kontrollieren. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich neu bin. Vermutlich ist der Grund eher, dass ich ich bin. Jedenfalls mache ich die Abrechnung nicht.

  Es ist nicht viel los. Ein paar Leute kaufen gekühlte Getränke. Für Kaffee ist es wohl einfach zu warm. Aber dann geht die Tür auf und das seltsame Mädchen von vor einigen Tagen steht wieder vor mir. Sie trägt Jeans und eine bunte Bluse mit weiten Ärmeln, und ihre braunen Haare fallen locker über ihre Schultern. Sie wirkt ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Das haben wir wohl gemeinsam – wenn auch auf völlig unterschiedliche Art und Weise. Es verunsichert mich, dass sie einfach nicht aufhört zu reden und zu strahlen. Ihre übertriebene Positivität gibt mir das Gefühl, menschliche Interaktionen nicht mehr zu beherrschen. Ich kann Armdrücken, ich kann mein Bett in unter einer Minute machen und ich kann mit einem gezielten Schlag eine Nase brechen. Aber all das nützt mir hier draußen wenig.

  Als sie mich sieht, gibt sie nur ein einfaches »Oh« von sich. Es klingt enttäuscht oder genervt. Ich bin mir nicht ganz sicher. Sie wägt wohl ab, ob sie bleiben soll, entscheidet sich dann aber dafür. Sie legt ihre Umhängetasche und das Buch, das sie in der Hand hält, auf einen Tisch und kommt wieder an den Tresen.

  »Kaffee? Schwarz?«, versuche ich es, denn das war doch neulich ihre Bestellung, oder? Aber auch dieser Versuch, ihr entgegenzukommen, fühlt sich ungenügend an.

  »Ja, danke«, sagt sie und setzt sich an den Tisch. Sie schlägt ihr Buch auf und beginnt zu lesen. Viele Seiten fehlen ihr nicht mehr, dann ist sie durch.

  Ich fülle einen Becher mit schwarzem Kaffee und bringe ihn an ihren Tisch. Sie sieht nicht einmal von ihrem Buch auf, sondern tastet, bis sie den Henkel der Tasse mit den Fingerspitzen findet. Fast will ich fragen, was sie liest, so spannend, wie es sein muss. Aber was hätte ich davon? Stattdessen gehe ich in die Küche und frage Che nach einer Zigarette.

  Vor dem Café schließe ich beim ersten Zug die Augen. Ich habe noch kein Geld, um mir selbst eine Schachtel zu kaufen, deswegen rauche ich viel weniger, als ich gewohnt bin und als mein Körper braucht. Ich hatte mir überlegt, Amy um eine Packung zu bitten, aber wer weiß, was sie dafür von mir will. Antworten auf all ihre Fragen vermutlich. Nein danke. Vielleicht ist jetzt ein guter Moment, mit dem Rauchen aufzuhören.

  Ich blicke die Straße hinunter. Es ist nicht viel los an diesem heißen Tag. Die geparkten Autos am Straßenrand sind staubig. Dies ist keine Gegend, in der man sich viel aus einem sauberen Wagen macht. Wenn er einen von A nach B transportiert, reicht das vollkommen. In dieser Straße, in der beinahe jedes Haus mit Graffitis verziert ist, glaubt man kaum, dass nur zwei Kreuzungen weiter die lebendige Innenstadt beginnt. Beim Gedanken an den Trubel läuft es mir kalt den Rücken runter. Es gibt sogar eine beschissene Eisdiele. Zumindest war das vor sechs Jahren noch so. Ich war nicht oft dort, aber ich weiß noch genau, wie es ausgesehen hat. Studenten und Schüler, die bis auf die Straße für einen Eisbecher anstanden. Jetzt kommt es mir vor wie eine andere Welt. Eine andere Galaxie, in der ich nichts verloren habe.

  Ich gehe wieder hinein. Das Mädchen schaut kurz auf und lächelt, als hätte sie für einen Moment vergessen, dass sie mich nicht leiden kann. Dann vibriert ihr Handy. Sie nimmt es auf, liest die Nachricht und stöhnt. Dann wirft sie das Telefon beinahe genervt auf den Tisch.

  In Ermangelung einer interessanteren Beschäftigung beobachte ich eine Weile, wie sie wieder in ihr Buch versunken am Tisch sitzt. Sie liest schnell. In regelmäßigen Abständen blättert sie um. Nur ab und zu scheint sie an einzelnen Passagen zu verharren. Dann kann ich sehen, wie sich ihre Lippen bewegen, als würde sie sich wichtige Sätze lautlos vorlesen.

  Plötzlich höre ich meine eigene Stimme. »
Was liest du da?«, frage ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich gerade tue.

  Sie schaut wieder auf. »Jenseits von Eden«, sagt sie. »Kennst du das?«

  »Nein«, erwidere ich, obwohl ich es im Gefängnis gelesen habe. Ich habe in den letzten Jahren eine Menge gelesen gegen die Langeweile und die Einsamkeit. Ich weiß nicht, warum ich sie angelogen habe. Ich muss mich selbst ermahnen, freundlich zu sein, muss lernen, mit Menschen umzugehen, wenn ich auf dieser Welt eine Chance haben will. Die Gäste im Café sind eigentlich das ideale Training. Deswegen reiße ich mich zusammen und frage: »Ist es gut?«

  »Na klar, Steinbeck ist toll«, sagt sie. »Ich besuche im nächsten Trimester ein Seminar zu Steinbeck. Ich …« Sie zögert, als wüsste sie nicht, ob sie weiterreden soll. »Ich fange nächste Woche mit dem Literaturstudium an. Nachher muss ich mich noch persönlich einschreiben. Aber das willst du gar nicht wissen. Entschuldige.«

  Sie schlägt ihre großen braunen Augen nieder und will sich schon wieder in die letzten Seiten vertiefen. Sosehr es mir auf die Nerven geht, dass sie mir das Gefühl gibt, ich müsste mich für all das interessieren, was sie von sich gibt, tut es mir fast ein bisschen leid, dass ich ihr nicht mehr Freundlichkeit entgegenbringen kann. Ich beiße die Zähne zusammen.

  »Dann viel Spaß!«, sage ich und bin fast ein bisschen verwirrt. Das war, wenn mich nicht alles täuscht, eine relativ normale Unterhaltung, auch wenn ich sie nicht unbedingt genossen habe. Selbst das So-tun-als-ob strengt mich an.

  5 Tamsin

  Mr Unhöflich, der komische Vogel aus dem Café, hat gerade tatsächlich versucht, mit mir zu sprechen. Ich bin erstaunt. Wer hätte gedacht, dass aus seinem Mund mehr als nur unfreundliches Gestammel kommt? Dabei habe ich extra versucht, ihn in Ruhe zu lassen. Ich habe nicht geschwafelt oder ihm meine halbe Lebensgeschichte aufgezwungen wie beim letzten Mal. Ich habe sogar aufgepasst, ihn nicht anzustarren. Dabei hat er ein faszinierendes Gesicht. Kalte blaue Augen, volle Lippen, hohe Wangenknochen und ein sehr markantes Kinn. Er sieht aus wie jemand, der viel angestarrt wird. Unter seiner Schürze zeichnen sich durch das T-Shirt Muskeln ab. Wäre ich noch an Männern interessiert, würde ich vermutlich sagen, er sei attraktiv. Auf eine wilde und gefährliche Art. Aber mir geht es sehr gut in meiner männerfreien Welt. Ich werde mir meine Studienzeit sicher nicht mit Eifersucht und Liebeskummer ruinieren.

  Ich will noch einen Schluck aus meinem Kaffeebecher nehmen – weiß mit hellblauen Punkten –, aber die Tasse ist leer. Was soll’s, ich gönne mir noch eine. Der Versuch, ein anderes Stammcafé zu finden, ist gründlich misslungen, sodass sie mich jetzt hier im Mal’s ruhig kennenlernen sollen: Tamsin Williams, Literaturstudentin und Kaffeesüchtige.

  »Entschuldige …? Ich weiß leider deinen Namen nicht«, sage ich. Der Kerl am Tresen blickt auf. »Kann ich noch einen kriegen?« Ich schwenke den Becher.

  »Jep«, sagt er kurz angebunden. Seine freundliche Phase ist offensichtlich vorbei. Er kommt auf mich zu. Als er neben mir steht und meine Tasse nimmt, zeigt er auf ein Schild an seiner Brust. Dort steht in schwarzen Blockbuchstaben »Rhys«.

  »Hi, Rhys«, sage ich. »Ich bin Tamsin, aber das habe ich dir ja beim letzten Mal schon erzählt.«

  Er füllt schweigend meine Tasse auf und bringt sie mir wieder an den Tisch. Als er sich gerade wegdrehen will, sage ich: »Bist du eigentlich zu allen Gästen so ruppig oder nur zu mir?« Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Manchmal kann ich einfach meine Klappe nicht halten.

  »Wie bitte?«, fragt er. »Habe ich dir nicht gerade einen Kaffee an den Tisch gebracht? Stimmt damit vielleicht irgendwas nicht?«

  »Äh, nein, alles in Ordnung, danke. Ich dachte nur, na ja, gegen ein bisschen Small Talk hat sonst niemand etwas. Entschuldige, ist ja auch deine Sache«, murmele ich.

  »Ja, genau, meine Sache«, entgegnet er.

  Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Normalerweise mögen die Menschen meine Art. Sie sagen Dinge wie »Tamsin, die ist witzig« oder »Tamsin ist wirklich nett« oder »Ich will neben Tamsin sitzen«. Ich wüsste gerne, was Rhys’ Problem ist.

  Auf einmal höre ich seine tiefe, etwas heisere Stimme direkt hinter mir. »Tut mir leid, ich meine es nicht so.«

  Ich bekomme fast eine Gänsehaut. Er fühlt sich ganz nah an, viel näher, als er in Wirklichkeit ist. Dieser Satz klingt anders als alles andere, was er bisher gesagt hat. Er klingt irgendwie ehrlich und verletzlich. Ich blicke mich um, und da steht er, an den Tisch hinter mir gelehnt, die Arme wie zum Schutz vor der Brust verschränkt.

  »Schon okay«, sage ich. Plötzlich will ich, dass er sich nicht mehr schlecht fühlt deswegen. Ich versuche es mit einem Lächeln. »Der Kaffee hier ist übrigens wirklich gut.« Vielleicht lockert das die Stimmung zwischen uns wieder. Seine Mundwinkel zucken kaum merklich nach oben. Ganz so, als würde er lächeln wollen. Aber sein Mund macht irgendwie nicht mit. Er atmet tief ein und stößt beim Ausatmen einen Seufzer aus. In diesem Moment wirkt er, als trage er die gesamte Traurigkeit der ganzen Welt mit sich herum. Ich wüsste zu gern, wie er so geworden ist. Als besorgte Kundin, versteht sich. Ob er das Gleiche durchgemacht hat wie ich? Hat er auch einen geliebten Menschen verloren? Wurde er auch hintergangen? Aber das fragt man natürlich nicht, und so wende ich mich wieder meinem Buch zu.

  So richtig konzentrieren kann ich mich allerdings nicht mehr. Ab und zu hebe ich den Kopf und beim dritten oder vierten Mal erschrecke ich, als sich unsere Blicke treffen. Ich schaue nicht sofort wieder weg, und für ein paar Sekunden sehen wir einander in die Augen. Mein Herz macht einen kurzen Satz. Ich habe definitiv zu viel Kaffee getrunken. Es wird Zeit, dass ich mich auf den Weg zur Uni mache.

  Der Campus der Universität liegt sehr zentral. Die verschiedenen Gebäude sind durch Parkanlagen miteinander verbunden. Da der Universitätsbetrieb noch nicht wieder angefangen hat, ist kaum etwas los. Hier und da sitzen vereinzelt Studenten auf der Wiese und lesen.

  Der erste Blick auf das Hauptgebäude erfüllt mich mit einer kribbeligen Aufregung. Ich forme mit den Fingern meine Kopfkamera, und – »Klick« – habe ich das Bild für immer festgehalten. Das Hauptgebäude ist ein beeindruckender roter Ziegelbau aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das habe ich schon auf der Webseite der Universität nachgelesen. Die rote Farbe ist immer wieder von weißen Zierornamenten unterbrochen. Das Eingangsportal wird von weißen Säulen gestützt. Links und rechts vom Haupteingang ragen hohe, viereckige Türme in die Luft, die der Universität etwas Erhabenes verleihen. Die Nebengebäude sind etwas moderner, jedoch in der gleichen Ziegeloptik gehalten, sodass der gesamte Komplex stimmig wirkt.

  Ich finde das Sekretariat, in dem ich meine Unterlagen für die Immatrikulation abgeben muss, nicht sofort. Die Gänge im Hauptgebäude sind verwinkelt, und das blöde Zwischengeschoss ist unerreichbar.

  »Entschuldigung«, frage ich deshalb ein zierliches, dünnes Mädchen mit lilafarbenen Haaren und einem kurzen Gothic-Rock, »weißt du, wo das Büro für die Einschreibung ist?«

  Sie bleibt stehen und dreht sich um. Ihr Gesicht ist sommersprossig und fröhlich.

  »Da muss ich auch hin!«, sagt sie und kommt auf mich zu. »Lass uns zusammen suchen. Ich bin übrigens Zelda.« Bei diesen Worten streckt sie ihre Hand aus.

  »Ich bin Tamsin«, sage ich und wir schütteln uns die Hände.

  »Ich glaube – aber ganz sicher weiß man es erst hinterher –, dass das Büro auf diesem Stockwerk sein muss. Ich habe mir den Lageplan abfotografiert, schau.« Zelda zeigt mir ihr Handy und vergrößert mit den Fingern ein relativ unscharfes Foto. »Wir sind jetzt hier, siehst du? Und eigentlich sollte es da vorne um die Ecke sein.«

  Sie nimmt mich am Arm und zieht mich hinter sich her. Und tatsächlich, hinter der nächsten Ecke steht eine Schlange aus ungefähr zwanzig etwas ängstlich dreinblickenden Jungen und Mädchen.

  »Tadaaa«, sagt Zelda triumphierend. »Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe«, flüstert sie dann. »Das ist ja eine seltsame Leichenstimmung hier.«

  Ich grinse.

  »Wo kommst du her?«, frage ich, weil ich finde, dass wir uns die Wartezeit durchaus mit einer netten Unter
haltung vertreiben können.

  »Ich bin nicht weit von hier aufgewachsen. Eine Stunde westlich. In der Nähe von einem Ort namens Paloma Bay. Wird dir nichts sagen. Unser Haus liegt etwas außerhalb auf einem Hügel. Man überblickt von dort den Ort und die Bucht.«

  »Das klingt traumhaft«, sage ich, doch Zelda schnaubt.

  »Na ja, wie man es nimmt. Mit Touristenaugen sicher. Mit Touristenaugen ist bestimmt auch das Herrenhaus meiner Eltern traumhaft. Aber wenn man sich nicht so viel aus Geld macht, ist es unerträglich.« Sie grinst.

  »Mein Elternhaus ist zwar etwas bescheidener, aber wenn man sich nichts aus Sukkulenten macht, ist es da auch unerträglich«, lache ich. »Weißt du schon, auf was du dich spezialisieren willst?«

  »Ich weiß vor allem, worauf ich mich nicht spezialisieren will«, sagt Zelda. »Meine Brüder studieren alle Jura oder Wirtschaft. Einer erfolgreicher als der andere. Also das wird es definitiv nicht. Ich war schon immer die Rebellin zu Hause. Ich glaube, meine Eltern sind ganz froh, dass ich endlich ausgezogen bin«, erzählt sie. »Und du?«

  »Ich will auf jeden Fall Literatur studieren. Davon träume ich schon, seit ich lesen kann«, sage ich. »Aber ich habe auch kein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Der letzte Anruf zu Hause war eine mittlere Katastrophe.«

  »Oh, oh«, macht Zelda.

  Die Schlange wird nur langsam kürzer, aber mit Zelda als Gesprächspartnerin macht es mir nichts aus.

  »Wohnst du auf dem Campus?«, fragt sie.

  »Nein, dafür war ich zu spät dran. Ich habe eine kleine Wohnung für mich alleine.«

  »Oh, wow! Das klingt himmlisch!«, seufzt Zelda. »Ich glaube aber, dass ich nicht dafür gemacht bin, allein zu wohnen. Ich brauche Trubel um mich rum. Zu Hause war ich auch immer am liebsten in der Küche bei den Angestellten. Da, wo etwas los war.« Sie lächelt. »Ich habe zwei Mitbewohner. Nett und laut. Wie ich es mag.«

  Inzwischen sind nur noch zwei Leute vor uns.