Finde mich. - Jetzt Page 3
Mit dem Daumen streiche ich über sein Gesicht. Ich bin diesem fantastischen Mann so unendlich dankbar für alles, was er für mich getan hat. Bei ihm habe ich gelernt, ich selbst zu sein, auch wenn ich dieses Selbst meistens für mich behalten musste. Auch dass ich hier in Pearley bin, verdanke ich vor allem ihm. Denn kurz nach seinem Tod bekam ich einen Anruf von einem »Mr Porter von Porter, Beck und Sealsfield«, einer Anwaltskanzlei in Rosedale. Dieser eröffnete mir, mein Großvater habe mir sechzigtausend Dollar vererbt. Ich fiel fast vom Stuhl – und hatte in diesem Moment die Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung für das Leben, gegen die Spießerhölle von Rosedale und mein Elternhaus, in dem ich mich nie wirklich frei gefühlt habe.
Das zweite Foto zeigt mich mit Sam, als wir noch Kinder waren. Die Aufnahme wurde kurz nach dem Einzug seiner Familie ins Nachbarhaus aufgenommen. Man sieht, wie ich ihn als Sechsjährige anhimmle, während er offensichtlich genervt ist. Ich liebe dieses Bild. Vor allem, weil die Freundschaft, die aus meiner Grundschulschwärmerei wurde, trotz des Altersunterschieds so lange gehalten hat. Und jetzt sind wir wieder in der gleichen Stadt! Der Gedanke an Sam zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht.
Allerdings weiß er ja noch gar nicht, dass ich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion meine Sachen gepackt habe und nach Pearley gezogen bin. Meine emotionale Aufgewühltheit und der allgemeine Trubel zu Hause ließen keine Zeit für Telefonate, bei denen ich die Zeitverschiebung hätte berücksichtigen müssen. Ich nehme mein Handy und wähle seine Nummer. Nach dem zweiten Klingeln meldet er sich.
»Tamsin!«, sagt er überschwänglich.
»Sam!« Ich imitiere seine Begeisterung.
»Das ist eine Überraschung. Was gibt’s?«
Ja, was gibt es? Das ist eine seltsam banale Frage, gemessen an der Antwort, die er gleich hören wird.
»Ich bin in Pearley«, sage ich lächelnd. Mein Herz schlägt schnell. Ich hoffe, er freut sich.
»Was? Warum hast du nicht gesagt, dass du mich besuchen kommst? Ich bin bis Sonntag gar nicht da!«
»Ich bin nicht zu Besuch. Ich bin hergezogen. Fürs Studium«, korrigiere ich ihn.
»Wie bitte?« Er gluckst. »Wann hast du dich denn dazu entschieden?«
»Erzähle ich dir, wenn wir uns sehen. Ist eine längere Geschichte. Erinnerst du dich, als wir vor ein paar Monaten aus Spaß zusammen meine Bewerbung umformuliert haben, um sie auch an die Pearley University zu schicken?«
»Natürlich erinnere ich mich daran«, sagt Sam. »Das war der Abend, an dem dein Dad unser Skype-Gespräch gecrasht hat, weil du beim Abendessen irgendeinen respektlosen Witz über die Republikaner gemacht hast.«
»Genau. Du hast gesagt, du würdest mit mir auf Studentenpartys gehen und durch Cafés und Bars tingeln. Ich weiß, das war damals ein Witz, aber wenn das Angebot noch steht, würde ich es gern in Anspruch nehmen.«
»Aber selbstverständlich steht das Angebot noch!« Er klingt immer noch leicht ungläubig. Aber nicht unglücklich. Ich kann aus seiner Stimme ein Grinsen heraushören. »Du bist echt irre, Tamsin. Ich bin die ganze Woche auf einer Summerschool, aber Sonntagabend können wir uns treffen. Soll ich uns einen Tisch bei meinem Lieblingsitaliener reservieren?«
»Sehr gern.«
»Perfekt. Dann haben wir ein Date.«
Haben wir natürlich nicht. Sam hat mit allen möglichen Studentinnen Dates, aber sicher nicht mit mir.
Es ist unglaublich. Ich werde am gleichen Institut studieren, an dem Sam promoviert. Ein paar allgemeine Kurse muss ich natürlich auch besuchen, ehe ich mich vollständig auf die Literatur konzentrieren kann, aber auch darauf freue ich mich. Die Schule hat mir nie gereicht. Ich war immer neugierig, noch mehr zu lernen – außer Trigonometrie. Ich wollte die Zusammenhänge der Welt verstehen und nicht nur an der Oberfläche entlangkratzen. Diese Möglichkeit bekomme ich jetzt an der Pearley University und kann es kaum erwarten, dass das Herbst-Trimester endlich beginnt.
Ich sehe mich schon die Bücher in meinem Sessel lesen, in der Bibliothek arbeiten – oder im Café. Wie eine richtige Studentin. Der Gedanke weckt in mir sofort die Entdeckerlust. Das Café gegenüber wäre vielleicht ein Ort, an dem es sich gut arbeiten und lesen ließe. Ich beschließe, es mir aus der Nähe anzusehen und gleich den Kaffee auszuprobieren.
In meiner Hosentasche rascheln ein paar kleine Dollarscheine. Es gibt Leute, die würden mich jetzt sicher schelten, dass ich schlampig mit meinem Geld umgehe. Dass es Geldbeutel gibt. Aber diese Leute gehören der Vergangenheit an, und ich finde es sehr praktisch, nicht erst mein Portemonnaie suchen zu müssen.
Aus einigen der Wohnungen, an denen ich im Treppenhaus vorbeikomme, dringen Geräusche. In der Wohnung direkt unter meiner läuft der Fernseher. Noch ein Stockwerk weiter unten höre ich eine Frau telefonieren. In einer anderen Wohnung wird offensichtlich gerade heftig gestritten. Auch wenn ich nicht glaube, dass meine Gegend wirklich gefährlich ist – zumindest hat die Maklerin mir versichert, dass ich hier gut aufgehoben sei –, so zieht der günstige Mietpreis sicher nicht nur Studenten wie mich an.
Draußen brennt die Sonne auf den Asphalt herunter. Anfang September ist in Kalifornien im Gegensatz zu Maine noch richtig Sommer. Von der anderen Straßenseite aus wirkt Mal’s Café sehr gemütlich. Links neben der Eingangstür ist ein großes Schaufenster, durch das ich in den Laden blicken kann. Drinnen stehen bunt zusammengewürfelte Holztische und -stühle. Ich laufe über die Straße, und als ich die Tür öffne, erklingt eine Glocke, die mich ankündigt. Ich trete ein und atme den betörenden Geruch von frisch gebrühtem Kaffee. An den Wänden hängen Bilder von verschiedenen Künstlern, die zum Verkauf angeboten werden. Es ist ein bunter Mix aus abstrakter Kunst und Landschaftsmalereien. Ja, hier lässt es sich aushalten.
Auf dem Tresen stehen große Gläser mit Cookies neben einer altmodischen Kasse. Dahinter dreht sich der Barista langsam um und sieht mich mit einem seltsamen Blick an. Sein Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Verwirrung und Panik. Wo bin ich denn hier gelandet?
»Hi«, sage ich, aber er nickt nur knapp. »Ich bin gerade gegenüber eingezogen«, erkläre ich ihm. Manchmal lockern solche Informationen merkwürdige Situationen auf. »Ich bin auf der Suche nach meinem neuen Stammcafé.«
Er sieht mich an, als hätte er keine Ahnung, was ich von ihm will. Ist das Konzept »Café« in Kalifornien ein anderes? Macht man hier keinen Small Talk?
»Aaaaalso«, sage ich gedehnt und studiere die Tafel über der silbern glänzenden Kaffeemaschine, auf der die verschiedensten Kaffeespezialitäten angeboten werden. »Ich glaube, ich nehme …« Vor lauter Frappuccinos und Lattes in verschiedenen Geschmacksvarianten bin ich etwas überfordert. »Ich glaube, ich nehme einfach einen schwarzen Kaffee.«
Ich lächle ihn breit an, aber sein Gesicht bleibt starr. Er glotzt mich einfach nur dämlich aus seinen eisblauen Augen an.
»Ich, also, hm«, macht er und räuspert sich. »Ich arbeite eigentlich noch gar nicht hier.« Er blickt zu Boden.
»Oh, ach so, entschuldige. Dann sind wir also beide neu hier«, sage ich und lache. »Ich bin Tamsin. Komischer Name, ich weiß.«
Langsam fühle ich mich ein bisschen dämlich. Der Typ fängt an, mir Angst zu machen, auch wenn er ziemlich gut aussieht. Ich habe den Männern zwar abgeschworen, aber auch ich bin nicht immun gegen ein derart markantes Gesicht. Soll ich noch einen Versuch unternehmen? Ich räuspere mich.
»Ich kann auch warten, kein Problem«, sage ich, um die Situation zu entschärfen. Was ist das nur für ein seltsamer Kerl, dass er nicht reagiert? Auch wenn er neu ist, ist das noch lange kein Grund, so ungehobelt zu sein. Entweder ist er dumm oder einfach nur extrem unhöflich.
»Mein Chef kommt gleich und macht dir deinen Kaffee«, bequemt sich der seltsame Kerl dann doch noch zu sagen.
Und tatsächlich, in diesem Moment wird der Vorhang zur Seite geschoben und eine sehr hübsche junge Frau und ein älterer Mann treten heraus.
»Ah, guten Tag«, begrüßt mich der ältere Mann. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, ich hätte gern einen schwarzen Kaffee.« Ich kann nicht glauben, dass ich doch noch zu meinem Heißg
etränk kommen werde.
Während ich warte, beobachte ich aus dem Augenwinkel die blonde Frau und Mr Unhöflich. Sie sagt seltsame Sachen zu ihm. Alles kann ich nicht verstehen, weil sie sich Mühe gibt, leise zu sprechen, aber ich höre ein paar Fetzen heraus.
»… nicht so schlecht für deinen ersten Tag … wird leichter … bin für dich da.«
Ich wüsste zu gern, um was es geht, aber ich möchte nicht lauschen. Also nehme ich den Kaffeebecher entgegen, zahle und laufe Richtung Tür. Die beiden blockieren mir leider den Weg, und eine Entschuldigung murmelnd dränge ich mich zwischen ihnen durch. Ich streife den ungehobelten Kerl mit dem Arm, und er macht einen Satz nach hinten, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. So etwas ist mir wirklich noch nie passiert!
Auf der Straße drehe ich mich noch einmal um und schüttle kaum merklich den Kopf. Ob es wohl noch ein anderes Café in der Nähe gibt, in dem mein Traum von der kaffeesüchtigen Literaturstudentin wahr werden kann?
Am nächsten Tag kommen meine Bücherkisten. Ich bin froh, dass ich den höheren Preis für den Express-Versand in Kauf genommen habe, denn in der Fremde ist es schön, bekannte Dinge um mich herum zu haben. Als ich die Boxen öffne, entweicht ihnen ein zauberhafter Duft nach der Bibliothek meines Großvaters, nach Geborgenheit und Glücksmomenten zwischen Staub und vergilbten Seiten. Sofort steigen vor meinem inneren Auge Bilder seiner Wohnung auf. Ich wünschte, er könnte sehen, wie schön ich es hier habe! Schließlich war er die letzten neunzehn Jahre mein Verbündeter, mein Seelenverwandter. Der Einzige, bei dem ich mich verstanden und aufgehoben gefühlt habe.
Er war es, der mir mit fünf Jahren beibrachte, zu lesen. Der mir zeigte, dass ich in Büchern die Freiheit finde, nach der ich mich auf den Schutzbezügen unserer Sofagarnitur und in der geistigen Enge Rosedales immer gesehnt habe.
Kein Wunder also, dass meine Eltern mir die Besuche bei meinem Großvater verbieten wollten. Doch so folgsam ich ansonsten sein musste, diese eine Regel brach ich wieder und wieder. Keine Bestrafung der Welt konnte mich von seinen großen, dunklen Holzregalen fernhalten, die bis oben hin vollgestopft waren mit wunderschönen Klassikerausgaben. Beinahe jeden Nachmittag verbrachte ich in den unmöglichsten Sitzpositionen auf seinem gemütlichen ledernen Lesesessel – völlig versunken in fremde Welten.
Die Wohnung meines Großvaters war für mich der einzige Ort in ganz Rosedale, an dem ich das Gefühl hatte, ich selbst sein zu können. Hier musste ich nicht aufrecht sitzen, die Hände auf dem Tisch, Schultern zurück und Brust raus.
Ich schüttle das Gefühl der Enge, das mich überkommt, wenn ich an mein Elternhaus denke, von mir ab und widme mich wieder meinen Boxen.
Auf der Straße vor dem Café habe ich alte Obstkisten gefunden und sie an meiner Wand gestapelt. Ich hole ein Buch nach dem anderen aus den Kartons. Jedes einzelne behandle ich wie einen kostbaren Schatz. Mithilfe der Bücher stehen die Obstkisten sogar ziemlich stabil. Jetzt ist es richtig wohnlich. Ich finde, Bücher verleihen jedem Raum etwas Gemütliches und Lebendiges. Nicht nur sind die Buchrücken farbenfroh, man lernt auch noch viel über den Bewohner eines Zimmers. Ich war mal mit einem Jungen aus, in dessen Regal nur vier Bücher standen. Jedes hatte Ernährungs- und Fitnesstipps zum Inhalt. Mir war schnell klar, dass das mit uns nichts werden würde. Bei einer gewissen anderen Person war das anders. Er hatte viele Interessen, Pläne, Ziele. Wie kann man sich nur so in einem Menschen täuschen? Aber egal. Jetzt geht es nicht mehr um ihn. Jetzt geht es um mich!
Wie aufs Stichwort vibriert mein Handy.
Du kannst mich nicht ewig ignorieren.
Oh, doch. Das kann ich.
Meine Schallplatten lehne ich neben mein improvisiertes Regal. Mein Vater machte sich ständig lustig über meine Sammlung. Der Klang sei nicht gut genug, Vinyl zu empfindlich. Aber ich liebe den kratzigen Sound und das Gefühl, dass Musik etwas Zerbrechliches und Kostbares ist. The Velvet Underground, The Smiths, Nico, Talking Heads, The Clash. Über jedes Plattencover streiche ich einmal mit dem Finger, um sie willkommen zu heißen. Jetzt brauche ich noch einen Plattenspieler. Denn der, den ich zu Hause hatte, hätte die Reise nicht überlebt.
Ich mache mir eine Liste von den Dingen, die ich in den kommenden Tagen, bevor die Uni losgeht, noch erledigen muss.
Auf meine Liste schreibe ich:
Immatrikulation bestätigen
Online-Anmeldung für Unikurse
neue Matratze kaufen
Plattenspieler besorgen
Mom und Dad besänftigen
die Umgebung erkunden und hoffentlich ein neues Café finden
Damit habe ich einen Plan und es bleibt trotzdem noch genug Luft, um Sam zu treffen, zu lesen, den Campus kennenzulernen und die letzten freien Tage zu genießen. Ist das Leben nicht schön!
4 Rhys
Die nächste Zeit verbringe ich wie in einem Delirium. Ich schlafe viel, genieße die Stille um mich herum. Niemand schnarcht, ich werde nicht durch dieses scheußlich grelle Licht frühmorgens geweckt. Ich dusche lange und kann gar nicht fassen, dass ich dabei alleine bin. Manchmal habe ich den Eindruck, ich würde laute Männerstimmen vernehmen, aber das bilde ich mir nur ein. Ich nehme das erste Mal seit sehr langer Zeit meinen eigenen Körper wahr. Meine Hände verteilen die Seife auf meiner Brust und fühlen die Muskeln unter der Haut. Ich spanne sie an. Im Gefängnis bedeuteten sie Schutz. Ich habe trainiert, um fit zu sein, mich wehren zu können. Jetzt – ich weiß es nicht. Nichts, was ich tue, dient einem unmittelbaren Zweck. Es geht nicht mehr ums Überleben. Jetzt geht es ums Leben, und davon verstehe ich nichts.
Es fühlt sich seltsam an, Berührungen aktiv wahrzunehmen. Malcolms Hand auf meiner Schulter, der Arm des gesprächigen Mädchens aus dem Café an meiner Brust, meine Hände, unter denen Seife schäumt. Einerseits ist da nichts – als wären meine Nerven abgestumpft. Andererseits sind mir Berührungen so bewusst wie noch nie zuvor. Ich kann nicht einmal sagen, ob es mir gefällt. Ich weiß, dass es mir Angst macht. Nähe empfinde ich als bedrohlich. Und wer will es mir verdenken nach der ganzen Scheiße? Aber ich muss lernen, Menschen wieder in meine Nähe zu lassen. Sonst ist mein Plan zum Scheitern verurteilt.
Bei meinem ersten Ausflug in diese für mich so neue Welt mache ich mich auf die Suche nach einem Internetcafé. Früher gab es solche Läden an jeder Ecke. Aber inzwischen sind sie offensichtlich beinahe ausgestorben.
Ohne es zu wollen, entferne ich mich immer weiter von meinem Zuhause, von dem einzigen Ort, an dem ich meinen Platz kenne. Auf dem Teppichboden meines Zimmers, den Blick an die Decke gerichtet.
Ich nähere mich der Innenstadt. Immer mehr Menschen wuseln um mich herum. Es ist laut, es ist grell. Pearley ist in der Stadtmitte bunt und lebendig. Es ist das genaue Gegenteil von mir, der ich innerlich wie gelähmt bin. Besonders wenn die Studenten wie jetzt aus den Sommerferien zurückgekehrt sind, quellen die Restaurants, Cafés und Boutiquen, die die Straßen im Zentrum säumen, beinahe über. Pearley ist überschaubar, wenn die Studenten wegfallen. Aber sobald sie da sind, kommt die Stadt auf bestimmt achtzigtausend Einwohner. Und in diesem Moment habe ich den Eindruck, als wären alle achtzigtausend auf der Straße. Ich bin derjenige, der gegen den Strom unterwegs ist. Ständig muss ich nach links und rechts ausweichen, um niemandem zu nahe zu kommen. Oder damit mir niemand zu nahe kommt. Keiner scheint Notiz von mir zu nehmen, aber dafür bemerke ich jede noch so kleine Bewegung mit einer ungekannten Intensität. Autos fahren an mir vorbei. Jedes Mal zucke ich zusammen. Ich bin diese Art von Stadtlärm nicht mehr gewohnt.
An einer Kreuzung laufe ich an einem kleinen Kino vorbei. Es ist ein weißes Art-déco-Gebäude. Die weißen Anzeigetafeln mit schwarzen Buchstaben kündigen auch heute noch die Filme an. Kurz habe ich das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben ist. Ich erinnere mich, wie ich mich früher hier in Vorstellungen geschlichen habe, da nie genug Geld übrig war, um eine Karte zu kaufen. Aber als ich blinzle, bin ich mir der Tatsache, dass sechs Jahre vergangen sind, seit ich das letzte Mal hier war, nur allzu bewusst. Hinter der Kreuzung beginnt die Fressmeile. Restaurant reiht sich an Restaurant, ein Hotdog-Stand wirbt damit, die besten Hotdogs
Kaliforniens zu verkaufen. Obwohl mein Magen knurrt, habe ich keinen Appetit.
Eine Gruppe junger Leute – vermutlich Studenten – kommt mir entgegen. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Es sind zu viele, um ihnen auszuweichen. Sie lachen, klopfen sich auf die Schultern. Es sind drei Kerle und vier Mädchen. Sie kommen immer näher, und ich erstarre. Einer der Typen blickt mich an, weil er einen Bogen um mich laufen muss, und runzelt die Stirn. Als sie an mir vorbeigelaufen sind, bleibe ich noch eine ganze Weile wie versteinert stehen. Ich versuche, regelmäßig zu atmen, um meinen Puls zu beruhigen. Es ist einfach zu viel.
Ich biege in eine der weniger belebten Nebenstraßen ein. Hier findet das Nachtleben statt, aber tagsüber ist es ruhig. Einige der Bars haben zwar schon offen, aber am frühen Nachmittag sind sie noch nicht gut besucht.
Vor einem Eingang, aus dem gedämpfte Musik zu hören ist, steht ein Mann und raucht. Ich gehe auf ihn zu.
»Entschuldigung, hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?«, frage ich mit zittriger Stimme. Ich räuspere mich.
»Na klar«, sagt der Mann und lächelt. Er hält mir eine Schachtel und sein Feuerzeug hin, und ich bediene mich.
»Vielen Dank.« Ich inhaliere tief und merke sofort, dass ich ruhiger werde. Ich komme mir albern vor. Überfordert von einer Kleinstadt. Wenn ich jetzt zurück Richtung Hauptstraße blicke, wirken die bunt gestrichenen Häuser mit ihren Markisen und Sitzgruppen auf dem Gehweg regelrecht idyllisch. Die bunte Parade wird hier und da von rohem Backstein unterbrochen. Es ist nicht die Stadt, die mich bedroht. Ich bin es, der die Idylle stört.
Ich drehe mich wieder zu dem Mann um, der seine Zigarette in diesem Moment wegschnippt. Ich ergreife meine Chance.