Finde mich. - Jetzt Read online

Page 2


  Ich biege in unsere Straße ein. Einige staubige Autos, die ihre beste Zeit längst hinter sich haben, parken am Straßenrand. Aus irgendeinem Haus dringt Kindergeschrei, das gleich darauf wieder verstummt. Probleme und Streitigkeiten werden in dieser Gegend ohne viele Worte gelöst.

  Ich setze beinahe widerwillig einen Fuß vor den anderen, wage es kaum, den Blick zu heben. Das Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, ist nicht einmal hundert Meter von mir entfernt. Doch ich zwinge mich, weiterzugehen. Ich muss den Schmerz spüren. Ein letztes Mal.

  Als ich direkt davor stehe, hebe ich den Blick. Es ist ein kleines, schäbiges Haus. Eine graue Fassade, von Rissen durchzogen. Eine morsche Holztreppe führt zur Eingangstür, in der ein kaputtes Fliegengitter hängt.

  Offensichtlich wohnt jemand in dem Haus, denn ich erkenne neue Gardinen in den Fenstern. Ich starre hinauf zum ersten Stock. Dort oben war mein Zimmer. Das Zimmer, aus dem sie mich herausgerissen haben, mich, einen unschuldigen Fünfzehnjährigen. In mir verkrampft sich alles. Ich höre vergangenes Kinderlachen, das Klappern meiner Mom in der Küche. Und sein Brüllen. Sein Wüten.

  Ich wende mich ab. Schnell setze ich meinen Weg fort. Dieser Ort ist für mich gestorben. Ich muss einen neuen finden, ein Zuhause für uns. Fernab von allem Bösen. Ich werde für uns stark sein. Stärker als jemals zuvor. Ich werde das hier hinkriegen. Das Leben, die Freiheit. Bei dem Gedanken wird mir übel und ich stütze mich auf der Motorhaube eines Autos ab, weil mir die Luft wegbleibt. Das rostige Metall ist heiß, und ich verbrenne mir beinahe die Finger.

  Ich brauche Amys Hilfe.

  Eine halbe Stunde später stehe ich vor einem heruntergewirtschafteten Gebäude, in dessen erstem Stock Amys Büro sein soll. Die Klingelanlage hängt an den Drähten aus der Wand und ich mache mir nicht die Mühe, sie auszuprobieren. Ich drücke die holzgerahmte Glastür auf, an deren Innenseite Flyer hängen. Entzugskliniken, Selbsthilfegruppen, Seelsorgetelefon, all so nutzloser Kram, den man erst braucht, wenn es schon längst zu spät ist. Aber hey, ruf uns an, dann wird alles wieder gut! Von wegen. Eher: Ruf uns an, damit wir unser schlechtes Gewissen beruhigen können.

  Ich hoffe, Amy ist anders. Sie hat mich in den letzten Wochen ein paarmal besucht und wirkte okay. Nicht, dass es eine Rolle spielt, aber ich bin kein Mittel zum Zweck. Ich bin sicher nicht hier, um ihr Gewissen zu beruhigen, falls es das ist, was sie will.

  Das Treppenhaus ist angenehm kühl nach meinem Fußmarsch durch diese Affenhitze. Ich wische mit dem Ärmel über meine Stirn und gehe die Stufen hoch. Auch hier hängen an der Wand Plakate für irgendwelche bescheuerten Programme. Jugendliche Straftäter, die in die Gesellschaft integriert werden sollen, Förderkurse – nichts für mich. Am Treppenabsatz angekommen zögere ich einen Moment. Was, wenn ich mich einfach nicht bei ihr melde? Was, wenn ich den Rest mit mir selbst ausmache, verschwinde und nicht mehr wiederkomme in dieses verfluchte Nest, das bis auf Elend und Verzweiflung nichts hervorbringt?

  Aber natürlich trete ich ein. Ich bin es so gewohnt, keine Wahl zu haben, dass ich mich einfach füge. Wie armselig ich bin. Keine Ahnung von der Welt, kein Wille, kein Drive.

  Amy sitzt an einem Schreibtisch voller Ordner und Unterlagen. Sie sieht auf und lächelt mich an.

  »Hey, Rhys! Du bist schon da! Ich habe erst heute Nachmittag mit dir gerechnet«, ruft sie für meinen Geschmack etwas zu laut. Sie scheint begeisterter über meine Entlassung zu sein als ich.

  »Hi«, sage ich kurz. Ich habe keine Lust auf Small Talk.

  Sie lächelt freundlich. Ihre Schneidezähne stehen ein bisschen zu weit auseinander. Ihre blonden Haare hat sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie wirkt locker. Genau das Gegenteil von mir. Ich weiß nicht, wohin mit mir, mit meinen Händen. Ich passe hier nicht hin. Amy steht auf und bedeutet mir, ihr zu folgen. Im Nebenraum steht eine Sitzgarnitur. Sie nimmt auf einem Sessel Platz, und ich lasse mich auf die Couch fallen.

  »Na, dann schauen wir mal, was wir mit dir machen. Hast du für den Anfang schon irgendwelche Fragen? Dass ich eine Unterkunft und einen Job für dich organisiert habe, weißt du ja schon.«

  »Nee, passt.« Ich habe wirklich keine Lust auf ein Gespräch. Es ist mir viel zu viel: die Räumlichkeiten, Amy, einfach alles.

  »Okay, du weißt, dass du immer herkommen kannst, wenn etwas ist. Ich würde gerne – wenn du erlaubst – in der ersten Zeit ab und zu bei der Arbeit oder auch bei dir zu Hause vorbeikommen. Nur um sicherzugehen, dass es dir gut geht.«

  »Mhm.« Das klingt ja fantastisch. Verdammte Freiheit, dafür Überwachung, oder was?

  »Sehr schön. Danke für dein Vertrauen, das weiß ich zu schätzen. Ist ja nicht selbstverständlich.« Sie schlägt die Beine übereinander, greift nach einem Ordner und reicht mir daraus ein paar Blätter.

  »Hier ist deine Adresse. Du wirst erst mal noch allein in der Wohnung wohnen. Allerdings ist nur eines der Zimmer für dich. Das andere wird bald vergeben. Leider wurde der Junge, mit dem du eigentlich dort hättest wohnen sollen, rückfällig. So was ist immer schwer.« Die letzten Worte sagt sie etwas leiser. Als würde es sie wirklich interessieren, was mit uns armen Schweinen passiert. »Das Café, in dem du arbeiten kannst, ist Teil eines Resozialisierungsprogramms. Dein Chef ist einer von den Guten. Ein echt netter Kerl, dem soziale Projekte in Pearley am Herzen liegen. Die meisten deiner Kollegen sind allerdings Studenten. Nicht jeder ist leicht vermittelbar.«

  Ich schnaube. Leicht vermittelbar, wie das klingt. Als wäre ich ein beschissener Straßenköter. Ich brauche keine Gefallen. Ich komme schon klar. Aber das sage ich nicht. Ich halte einfach meine Klappe.

  Sie lächelt wieder und fährt fort: »Also, da du schon so früh da bist, würde ich vorschlagen, dass ich dich erst mal nach Hause bringe.« Nach Hause. Sie sagt tatsächlich nach Hause. Ich weiß nicht mal, was das bedeuten soll. »Hast du irgendwelche Sachen?«

  Ich deute auf die Plastiktüte. Mehr habe ich nicht – hatte ich vor sechs Jahren auch nicht. Woher denn auch? Er hat mir alles weggenommen. Er. Da ist er schon wieder. Immer wieder stiehlt er sich in meine Gedanken. Und mit ihm ein anderes Gesicht. Ein schönes, freundliches. Doch ich vertreibe es aus meinen Gedanken. Noch ist nicht die Zeit. Ich gebe mir einen Ruck. »Sonst habe ich nichts. Nur die Klamotten, die du mir mitgebracht hast. Danke übrigens.« Die letzten Worte nuschele ich in mich hinein.

  »Kein Problem. Ich habe mich wohl bei der Größe vertan. Allerdings muss man zu meiner Verteidigung sagen, dass ich nicht gerade viel Auswahl habe. Die Spenden, die wir bekommen, passen in den seltensten Fällen. Der Vorbesitzer deines Sweatshirts war anscheinend deutlich dicker als du.« Sie lächelt wieder, und ich tue ihr den Gefallen und lächle auch. Es fühlt sich komisch an. Verzerrt. Also lasse ich die Mundwinkel wieder sinken. »Wenn du magst, kannst du mal im Lager schauen, ob dich etwas anlacht.«

  »Okay«, sage ich. Denn schaden kann es nicht, ein bisschen Auswahl zu haben. Bis ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, werden sicher einige Monate vergehen. Ich weiß ja nicht einmal, wo ich anfangen soll, zu suchen. So lange kann ich schlecht in diesem hässlichen Sack herumlaufen.

  Amy steht auf, und ich folge ihr. Sie geht aus dem Büro und sperrt eine Tür auf dem gleichen Stockwerk auf. Dahinter verbirgt sich offensichtlich eine Art überdimensionale Rumpelkammer. Es riecht leicht muffig. Sie knipst das Licht an und weist auf einige Kleiderstangen. »Hier, die kannst du gerne durchschauen. Ich gehe mal auf eine Zigarette raus – ja, ich weiß, ich sollte nicht rauchen«, schiebt sie hinterher und blickt beschämt zu Boden.

  Ich zucke nur mit den Schultern. Ist mir doch egal.

  »Komm einfach runter, wenn du fertig bist. Dann gehen wir zusammen rüber. Hier sind Müllsäcke, stopf einfach alles rein, was dir gefällt.« Damit dreht sie sich um und geht.

  Ich bin froh, allein zu sein. Es ist brutal anstrengend, die ganze Zeit vollgequatscht zu werden. Ich gehe auf die Kleiderstangen zu. Nach einigem Durchforsten habe ich ein paar Jeans gefunden, die aussehen, als könnten sie passen, und vier T-Shirts. Ein Paar ausgelatschte Sneakers in meiner Größe steht auch herum. Die zu kleinen Sch
uhe und die Tüte mit meinen Sachen lasse ich da. Den Rest stopfe ich in einen Müllsack, knipse das Licht aus und mache mich auf die Suche nach Amy. Obwohl sie mir herzlich egal ist, und ich für sie nur ein Job bin, ist sie doch der einzige Fixpunkt, den ich im Moment habe. Sie steht vor dem Gebäude und raucht. Als sie mich sieht, lächelt sie wieder und hält mir ihre Schachtel Zigaretten hin. Ich nehme eine. Sie gibt mir Feuer, und ich inhaliere tief.

  »Danke«, sage ich und meine es wirklich ernst. Diese Zigarette tut unglaublich gut und lässt mein Leben weniger fremd wirken. Ein Stück Normalität in der Fremde. Ich lehne mich gegen die Wand und schließe die Augen.

  »Das ist sicher alles viel für dich«, sagt Amy. Ist sie eigentlich nie still? »Aber ich bin da, in Ordnung?« Sie zeigt auf meinen Müllsack. »Schön, dass du was gefunden hast. Bald kannst du dir von deinem Lohn auch was Neues kaufen. Aber für den Anfang ist es besser als nichts.«

  Ich nicke. »Ja, passt schon.« Allerdings bezweifle ich, dass ich mir sonderlich viel von meinem Lohn werde kaufen können. Er reicht gerade einmal für die Miete und Lebensmittel. Ich nehme noch einen tiefen Zug.

  »Sollen wir dann?«, fragt Amy. Sie kann es anscheinend kaum erwarten.

  »Klar«, erwidere ich. Und gemeinsam machen wir uns auf den Weg.

  In der Nachbarschaft, in der sich meine Wohnung befindet, sind die meisten Häuser abgerissen worden. Meine Wohnung ist in einem Wohnhaus, das früher mal links und rechts von weiteren Häusern flankiert wurde, jetzt aber frei steht. Der Putz bröckelt.

  Im ersten Stock schließt Amy eine Tür auf und gibt mir gleich den Schlüssel. Drinnen riecht es seltsam fremd. Mein Zimmer ist klein und miefig. Ein Einzelbett steht darin, eine Kommode, ein Tisch mit einem wacklig aussehenden Stuhl. Die Wände sind kahl. Ich komme jedoch kaum dazu, mich in der abgefuckten Bude umzusehen. Denn Amy schlägt vor, gleich noch zu Mal’s Café zu gehen. Dann könne ich mich schon mal vorstellen und mit allem vertraut machen. Sie verschwendet wirklich keine Zeit. Ich hätte mich lieber auf mein Bett gelegt und eine Woche lang geschlafen, so müde bin ich. Aber wie heißt es so schön: Zeit ist Geld. Und Geld ist der Anfang von allem, was ich vorhabe.

  Im Café werde ich als Erstes Malcolm vorgestellt. Er ist der Besitzer und freut sich offensichtlich, Amy zu sehen – und auch mich. Nach den üblichen Floskeln einer Begrüßung klopft er mir auf die Schulter. Ich zucke zusammen. Ich will nicht angefasst werden, schon gar nicht von einem alten Kerl, den ich gerade mal zwei verdammte Minuten kenne.

  »Rhys wird sich hier bestimmt gut machen«, versichert Amy. »Oder, Rhys?«

  »Mhm«, murmele ich. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.

  Wir gehen gemeinsam in die Küche, deren Zugang sich hinter dem Tresen befindet. Dort ist es unerträglich heiß.

  »Hey, Mann«, ruft ein gut gelaunter Südamerikaner, der auf den Edelstahloberflächen Gemüse schnippelt. Er will mit mir abklatschen. »Ich bin Ernesto, aber alle nennen mich ›Che‹.«

  »Hey«, erwidere ich und tue ihm den Gefallen eines High Five. »Rhys.«

  »Freut mich! Endlich mal wieder ein richtiger Kerl – wenn man Ollie nicht zählt.« Er senkt verschwörerisch die Stimme. »Ollie ist lesbisch.«

  Für diesen Kommentar boxt Malcolm ihn sanft in die Schulter. Anscheinend tatscht er einfach gern. Beide lachen laut. Ich versuche es noch mal mit einem bescheuerten Lächeln, aber es wirkt wieder so fremd, dass ich beschließe, es ab jetzt bleiben zu lassen.

  Wir lassen Che in der Küche allein, und Malcolm beginnt, mir alles zu erklären. Kaffeemaschine, Kaffee, Milch, Becher, Deckel. Tassen für die Kunden, die sich an einem unserer Tische niederlassen wollen. Eimer und Lappen, um die Tische zu wischen. Muffins, Brownies, Donuts. Er drückt mir eine Schürze in die Hand und sagt: »Du teilst dir die Schichten mit Ollie und Liz, die immer kommt, wenn Not am Mann ist. Heute haben sich beide krankgemeldet, deswegen bin ich hier alleine. Traust du dir zu, schon einzuspringen?«

  »Äh«, stottere ich, denn damit habe ich nicht gerechnet. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben.

  »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist«, sagt Amy. »Rhys ist noch gar nicht richtig angekommen.«

  »Oh, ach so, entschuldige, Rhys. Das ist kein Problem. Dann fängst du ganz normal deine erste Schicht übermorgen bei uns an. Hier ist der Schichtplan.« Mit diesen Worten gibt er mir einen Ausdruck. »Amy, kann ich dich noch kurz unter vier Augen sprechen?«

  »Klar, für dich hab ich immer Zeit«, sagt Amy lächelnd.

  Zu zweit gehen sie durch einen Vorhang ins Hinterzimmer. Endlich habe ich kurz Zeit, mich umzusehen. Das Café sieht normal aus, aber was weiß ich schon. Es ist ja nicht so, als sei ich in letzter Zeit in vielen Cafés gewesen. Das Holz der Tische gefällt mir. An der Wand hängen Bilder. Auf einem Schild lese ich, dass sie von lokalen Künstlern gemalt wurden. Ich widme mich der Kaffeemaschine.

  3 Tamsin

  Eingerahmt von meinem Gepäck warte ich vor meinem mit Graffitis verzierten Wohnhaus auf die Maklerin, die mir den Schlüssel vorbeibringen wollte. Mich beschleicht ein leicht mulmiges Gefühl, das ich aber sofort ignoriere. Ja, vielleicht habe ich unbesehen vor ein paar Tagen über eine Website eine Wohnung angemietet. Vielleicht war es die erstbeste, die ich finden konnte. Und ja, vielleicht ist das im Nachhinein betrachtet etwas leichtsinnig gewesen. Aber fangen nicht alle guten Abenteuer mit Leichtsinn an? Ich bin eine Viertelstunde zu früh und beschließe, meine Eltern anzurufen. Inzwischen müssten sie meinen Brief gefunden haben.

  Als das Freizeichen ertönt, bin ich nervös. Ich sehe meine Eltern vor meinem inneren Auge. Entsetzt über ihre Tochter; schockiert darüber, dass ich sie übergangen habe. Ich lasse es lange läuten und will schon auflegen, als ich höre, wie jemand abhebt.

  »Hallo, hier ist Tamsin«, sage ich. »Ich wollte sagen, dass ich gut angekommen bin.«

  Am anderen Ende herrscht eisiges Schweigen. Gut, das war vermutlich zu erwarten. Auf einmal kommt mir mein Plan, einfach zu verschwinden, ziemlich blöd vor. Andererseits haben meine Eltern mir unmissverständlich klargemacht, dass sie alles daransetzen würden, mich in Rosedale zu halten.

  »Dass du uns das antust«, flüstert meine Mom plötzlich am anderen Ende der Leitung. »Das ist unverzeihlich.«

  »Es tut mir leid, Mom«, sage ich. »Ich musste das tun. Für mich. Ihr habt mir keine Wahl gelassen. Du weißt ganz genau, dass ihr mich nicht hättet gehen lassen.«

  »Selbstverständlich nicht!« Sie spricht jetzt lauter, was anscheinend meinen Dad alarmiert. Aus dem Hintergrund höre ich ihn brüllen.

  »Du telefonierst doch nicht etwa mit ihr? Leg sofort auf, Francine. LEG AUF, HABE ICH GESAGT.«

  »Ich muss Schluss machen«, sagt meine Mom und weg ist sie.

  Ich schlucke schwer. Ich weiß, dass ich meine Eltern verletzt habe. Und ich habe es sicher nicht leichten Herzens getan. Aber meine Mom hat mir soeben noch mal bestätigt, dass sie mich nicht hätten gehen lassen. Es war meine einzige Chance.

  Ich lächle bemüht breit, als ich mich von der Maklerin verabschiede und endlich die Tür meiner eigenen Wohnung hinter ihr schließe. Obwohl, Wohnung ist vielleicht etwas zu viel gesagt, aber es sind eigene vier Wände. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Dann drehe ich mich um und laufe aus dem winzigen Flur am Badezimmer vorbei in mein Zimmer.

  Ein Moment für meine Kopfkamera. Mein neues Zuhause. »Klick«, mache ich, als ich ein imaginäres Bild von meiner Umgebung schieße.

  Ich liebe es hier. Ich liebe die Tapete, die halb heruntergerissen ist und in den Fünfzigern sicher mal der letzte Schrei war. Ich liebe den feuchten Fleck in der einen Ecke über dem beigefarbenen, abgewetzten Samtsessel. Er erinnert mich an Wasserfarben, und das ist gut, denn ich will nicht wissen, woher er wirklich stammt. Ich liebe den Blick aus meinen halb blinden Fenstern. Aus dem einen schaue ich auf die Straße, die links und rechts von parkenden Autos gesäumt ist. Auf der Straßenseite gegenüber ist ein Café, das mir vorhin schon aufgefallen ist. Und direkt neben meinem Wohnhaus bietet ein weiteres Fenster den Blick auf die ungefähr zwei Meter entfernte Hauswand eines leer stehenden Büro
komplexes, in dem sich bestimmt mal die Träume vieler Menschen erfüllen sollten. Start-ups und Kreativbüros. Was würde ich in einem eigenen Büro machen? Sofort fange ich an zu träumen. Meine eigene Literaturagentur. Oder ein Literaturmagazin. Oder … Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Autsch! Meine Matratze ist eine Zumutung. Eine Feder bohrt sich in meinen Rücken, und ich beschließe, dass eine neue Matratze die erste Anschaffung werden muss. In meinem Kopf fange ich eine Liste an. Neben der Matratze brauche ich ein Regal für meine Bücher, einen Duschvorhang, einen zweiten Stuhl. Mir fällt sicher bald noch mehr ein, aber im Moment bin ich so zufrieden, dass ich nicht darüber nachdenken will, was mir fehlt. Koste das Leben voll aus, sage ich mir.

  Ich habe es geschafft. Ich bin wirklich gegangen. Von Maine nach Kalifornien. Ich habe mich getraut. Und es war ganz leicht. Ich fühle mich so frei, beinahe, als würde ich schweben.

  Wäre da nicht das nervtötende Vibrieren meines Handys, das mir gerade die ungefähr hundertste Nachricht in einer Woche ankündigt. »Wo bist du?«, »Melde dich!«, »Lass es mich erklären«, »Gib mir noch eine Chance«. Ich will es ignorieren, will mir diesen Moment nicht kaputt machen lassen. Männerfreie Zone. Das ist es, was diese Wohnung sein soll.

  Nachdem ich mein neues Zuhause noch mal genau inspiziert habe, mache ich mich daran, meine Sachen auszupacken. Meine Klamotten hänge ich an die Kleiderstange, die neben dem Bett steht. Den Rest sortiere ich in die kleine Kommode unter einem der Fenster. Pu der Bär lege ich auf den Nachttisch. Das Buch sieht aus, als würde es genau hier hingehören. Meine Toilettenartikel räume ich ins Bad. Ich blicke in den Spiegel und mir fällt auf, dass auch ich so aussehe, als würde ich hier hingehören. Als Letztes stelle ich noch zwei Bilderrahmen auf. Eines der Bilder zeigt mich mit meinem Großvater.