Finde mich. - Jetzt Read online




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  Die Zitate in den Kapiteln 25, 29, 31 und 45 stammen aus:

  A. A. Milne, Pu der Bär. Gesamtausgabe. Übersetzt von Harry Rowohlt, Cecilie Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2009

  © Atrium Verlag AG, Zürich 1987 (für die Neuübersetzung)

  © Text von A. A. Milne

  © Piper Verlag GmbH, München 2019

  Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

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  Inhalt

  Cover & Impressum

  1 Tamsin

  2 Rhys

  3 Tamsin

  4 Rhys

  5 Tamsin

  6 Rhys

  7 Tamsin

  8 Rhys

  9 Tamsin

  10 Rhys

  11 Tamsin

  12 Rhys

  13 Tamsin

  14 Rhys

  15 Tamsin

  16 Rhys

  17 Tamsin

  18 Rhys

  19 Tamsin

  20 Rhys

  21 Tamsin

  22 Rhys

  23 Tamsin

  24 Rhys

  25 Tamsin

  26 Rhys

  27 Tamsin

  28 Rhys

  29 Tamsin

  30 Rhys

  31 Tamsin

  32 Rhys

  33 Tamsin

  34 Rhys

  35 Tamsin

  36 Rhys

  37 Tamsin

  38 Rhys

  39 Tamsin

  40 Rhys

  41 Tamsin

  42 Rhys

  43 Tamsin

  44 Rhys

  45 Tamsin

  46 Rhys

  47 Tamsin

  48 Rhys

  49 Tamsin

  50 Rhys

  51 Tamsin

  52 Rhys

  Danksagung

  Leseprobe

  1 Zelda

  2 Malik

  1 Tamsin

  Heute ist ein Tag der Gegensätze. Ein Tag der letzten und der ersten Male, ein Tag der einsamen Traurigkeit und ein Tag der stillen Vorfreude. Ich habe zum letzten Mal den Briefkasten meiner Eltern geleert und zum ersten Mal meine neue Adresse auf Pakete geschrieben, die sehr zum Ärger des Postbeamten bis zum Rand mit Büchern und Schallplatten gefüllt waren. Ich habe auf der Beerdigung meines Großvaters zum letzten Mal von der wichtigsten Person in meinem Leben Abschied genommen und blicke gleichzeitig das erste Mal positiv und neugierig auf alles, was vor mir liegt.

  Seit einer halben Stunde sitze ich nun endlich allein in meinem Kinderzimmer – in dieser rosa Hölle, in der nichts nach mir und alles nach meiner Mutter aussieht. Die letzten Beileidsbekundungen der Nachbarn konnte ich nicht mehr ertragen.

  Sie streckten meinem Vater die Hand hin. »Mr Williams, Ihr Verlust tut uns leid.« Dann umarmten sie meine Mom. »Mrs Williams, wir fühlen mit Ihnen.« Niemand kam auf die Idee, mir sein Beileid auszusprechen, obwohl ich die einzige Person in diesem Haus bin, der er etwas bedeutet hat.

  Aus der Küche dringt das Scheppern von Geschirr zu mir herauf. Meine Eltern sind also unten und werden mit Sicherheit nicht plötzlich hier hereinplatzen. Denn dass ich inmitten meiner Klamotten auf dem Boden sitze und Koffer packe, würde wohl definitiv zu Fragen führen. Die Fragen würden einen Streit auslösen, und dann müsste ich all meine Pläne begraben. Pläne, die mein Leben verändern sollen. Pläne, die ein aufgeregtes Kribbeln tief in meinem Innern verursachen.

  Ich werde von hier weggehen. Heute Nacht, wenn alle schlafen, werde ich Rosedale den Rücken kehren und ein neues Leben beginnen – ein Leben als Studentin im beinahe dreitausend Meilen entfernten Pearley. Ich habe nur noch darauf gewartet, meinem Großvater ein letztes Mal Lebewohl zu sagen. Den Plan, zu gehen, hatte ich bereits in dem Moment gefasst, als er mich hier allein zurückließ. Denn nichts hält mich mehr in diesem provinziellen Nest. Absolut nichts.

  Eine Packliste habe ich nicht. Vielleicht ist das waghalsig bei einem Umzug, aber die Dinge, die ich mitnehmen möchte, sind schnell gefunden. Alle Kleidungsstücke, die ich mir selbst ausgesucht habe, werfe ich in meinen Koffer. Was meine Mutter für mich gekauft hat, fliegt ohne jede Ordnung zurück in den Schrank. Ich bestimme, was ich in mein neues Leben mitnehme. Die Beerdigung meines Großvaters war die letzte Gelegenheit, bei der ich mir habe vorschreiben lassen, was ich anziehen soll.

  Meine Vintagekleider aus dem Secondhandladen meines Vertrauens, die bestickten Hippieblusen vom Flohmarkt, die original 80er-Jahre-Jeans meiner Tante, die ich vor der Mülltonne gerettet habe – sie alle schaffen es in den Koffer. Nichts davon konnte ich je tragen, ohne dass meine Eltern die Nase rümpften. Mehr als einmal schickten sie mich sogar wieder in mein Zimmer, damit ich mir »etwas Anständiges« anzog.

  Kurz überlege ich, was ich mit meiner Spitzenunterwäsche anstellen soll. Denn ich lasse nicht nur die strengen Regeln meiner Eltern in Rosedale zurück, sondern auch jede Ambition, mich jemals wieder auf eine Beziehung einzulassen. Andererseits brauche ich vielleicht Ersatz, wenn alles Bequeme in der Wäsche ist. Am Ende siegt die Faulheit und ich kippe einfach den gesamten Inhalt der Schublade in meinen Koffer.

  Koste das Leben voll aus. Diesen Ratschlag meines Großvaters werde ich beherzigen. Ab jetzt. Ich habe heute zum letzten Mal das brave, folgsame Mädchen gespielt. Denn ich habe zum ersten Mal eine Entscheidung für mich allein getroffen. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als mir bewusst wird, dass all das hier schon bald der Vergangenheit angehört.

  Ich sehe es schon vor mir: wie ich mit Kommilitoninnen und Kommilitonen über Literatur diskutiere, in der Bibliothek arbeite, bis mein Kopf raucht. Ich will mit Sam auf wilde Studentenpartys gehen, neue Leute kennenlernen.

  Sam ist mein bester Freund, meine bessere Hälfte. Und nach allem, was war, der einzige Mann, den ich noch in meine Nähe lasse, bis ich ungefähr achtzig bin. Wir waren lange Zeit Nachbarn, bis er fürs Studium nach Kalifornien zog. Inzwischen promoviert er in Pearley. Eigentlich wollte ich ihn darauf vorbereiten, dass sich meine Pläne geändert haben und ich nach Kalifornien komme. Doch zwischen meinen Vorbereitungen und der Beerdigung hatte ich noch keine Zeit, ihn anzurufen. Eine einfache Textnachricht erschien mir zu wenig. Ich will wenigstens seine Stimme hören, wenn er die aufregenden Neuigkeiten erfährt.

  Mir vorzustellen, was mich erwartet, verstärkt das kribbelige Gefühl noch. Die Bilder in meinem Kopf machen den Aufbruch so richtig real. Ich wische meine feuchten Hände an einem Oberteil ab, das aussieht, als wäre es in den späten Neunzigern der letzte Schrei bei Sekretärinnen kurz vor der Pensionierung gewesen, und werfe es in den Schrank. Dann setze ich mich auf meinen Koffer, um den Reißverschluss zuzumachen. Hoffentlich platzen die Nähte nicht auf.

  Mein Blick wandert durchs Zimmer. Nichts von all dem Kram, den ich zurücklasse, bedeutet mir etwas. Da sind die scheußlichen Nippesfigürchen in ihrer beleuchteten Vitrine, die meine Mutter mir jedes Jahr zum Geburtstag schenkt – natürlich viel zu wertvoll, als dass ich als Kind damit hätte spielen dürfen. Auf meiner Kommode stehen sinnlose Pokale, die von meinen vergangenen Erfolgen bei Buchstabier- und Vorlesewettbewerben zeugen. Das türkisfarbene Ungetüm von einem Ballkleid, das meine
Mom mir zum Abschlussball aufgezwungen hat, hängt an der offenen Tür meines begehbaren Kleiderschranks. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass meine Mutter jemals meine Wünsche wahrgenommen, geschweige denn respektiert hätte. Mein Zimmer – ihre Deko. Mein Abschlussball – ihr Kleid. Meine Freunde – ihr Urteil.

  Ich lege mich das letzte Mal in mein Bett. Die Kleider behalte ich an, damit ich bereit bin, wenn um vier Uhr mein Wecker klingelt. Meine etwas ramponierte Ausgabe von Pu der Bär liegt noch auf dem Nachttisch. Wie jeden Abend lese ich ein paar Seiten. Denn ich bin überzeugt, wenn man lesend einschläft, werden die Träume schöner. Mit dem Buch in der Hand und dem unangenehm süßlichen Weichspülergeruch meiner perfekt gebügelten Bettwäsche in der Nase schlafe ich langsam ein.

  Beim ersten Klingeln des Weckers bin ich sofort hellwach. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt richtig geschlafen habe. Mit einer App auf meinem Handy organisiere ich mir ein Uber. Die Adresse, die ich angebe, ist um die Ecke. Um jeden Preis muss ich verhindern, dass meine Eltern von einem laufenden Motor geweckt werden. Leise schleiche ich mich in mein Badezimmer, putze mir die Zähne und wasche mein Gesicht. Im Spiegel sehe ich irgendwie anders aus als noch vor ein paar Tagen. Irgendwie erwachsener. Als würde ich tatsächlich nicht mehr hierhergehören. Meine braunen Haare wellen sich über meine Schultern. Dazwischen schauen mich zwei etwas zu groß geratene braune Augen an. Ich lächle mir selbst zu, wie um mir zu sagen, dass das hier richtig ist. Und mein Spiegelbild lächelt das erste Mal seit Langem überzeugend zurück.

  Ein Neuanfang. Danach sehe ich aus. Und ein Neuanfang soll es werden. Ohne meinen Großvater zwar, aber auch ohne … Nein, ich verbiete mir jeden Gedanken an ihn. Und ohne meine Eltern, die mich am liebsten für immer hier in Rosedale halten würden und die mir keine Wahl gelassen haben, als sie sagten: »Du studierst in Rosedale oder gar nicht.« Doch jetzt lasse ich ihnen keine Wahl. Ich habe mir fest vorgenommen, ab jetzt mein Leben selbst zu leben. Mich nicht von ihren Ängsten und Bedenken der Welt gegenüber anstecken zu lassen.

  Meine letzten Toilettenartikel fliegen zu Pu der Bär in den Rucksack. Es ist die erste große Reise, die dieses Buch unternimmt. Ich setze den Rucksack auf und hebe den Rollkoffer hoch. Um keinen Lärm zu machen, muss ich ihn tragen.

  Beinahe lautlos gelange ich ins Erdgeschoss. Erst jetzt erlaube ich mir, auszuatmen. Mein Herz schlägt schnell. Ich stelle den Koffer ab, froh über die Pause, die ich meinen Armen gönnen kann. Dann gehe ich ins Wohnzimmer. Ich traue mich nicht, das Licht einzuschalten, und taste mich behutsam im Halbdunkel vorwärts. Meine Hände erfühlen den Designer-Glastisch, auf dem die Sukkulenten-Sammlung meiner Mutter steht.

  Aus meiner Hosentasche ziehe ich einen etwas zerknitterten Brief und lehne ihn an einen der Blumentöpfe. Darin erkläre ich meinen Eltern, dass ich nach Pearley gehe, um mein eigenes Leben zu führen. Es ist vielleicht nicht gerade die feine englische Art, einfach zu verschwinden, aber nach den Erlebnissen der letzten Tage fühle ich mich nicht imstande, einen Kampf mit ihnen auszufechten. Und ein Kampf würde es werden. Es ist einfacher, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das wird es auch für sie leichter machen. Hoffe ich zumindest.

  Gegenüber vom Glastisch steht das spießige Blumensofa, auf dem man nicht krümeln darf. Meine Finger gleiten über die Oberfläche. Ob mich bei diesem letzten Mal wohl noch ein wenig Nostalgie oder Wehmut überkommt? Zwei Schritte nach vorn und ich stoße beinahe an den schweren, dunklen Sekretär, für den meine Eltern auf einer Antiquitätenauktion ein Vermögen ausgegeben haben. Das Gesprächsthema Nummer eins bei jeder langweiligen Dinnerparty.

  Zurück im Flur ertaste ich mit den Fingern die Garderobe. Im Schuhregal finde ich meine geliebten Chucks. Meinen Eltern waren sie immer ein Dorn im Auge. Ihrer Meinung nach laufen nur »fragwürdige Jugendliche« mit diesen Schuhen herum. Aber zum ersten Mal in meinem Leben kann mir völlig egal sein, was sie denken oder sagen. Ich schnappe mir meine Jacke von der Garderobe, da es Anfang September in Maine nachts recht kühl ist.

  Als ich die Tür öffne, weht mir frische Nachtluft ins Gesicht. Ich atme einmal tief ein und hieve meinen Koffer über die Schwelle nach draußen. Ganz vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, ziehe ich die Tür hinter mir zu, bis sie mit einem leisen Klicken langsam ins Schloss gleitet. Geschafft!

  Noch wage ich es nicht, meinen Koffer zu ziehen, und trage ihn stattdessen die Einfahrt hinunter. Als ich auf der Straße vor unserem Haus stehe, stelle ich den Koffer ab und blicke mich noch ein letztes Mal um. Ich forme mit meinen beiden Daumen und Zeigefingern ein Viereck und konzentriere mich auf den Anblick meines Elternhauses. Diesen Moment will ich in meinem geistigen Fotoalbum festhalten – meinen Abschied von Rosedale. Ich betätige den imaginären Auslöser meiner Kopfkamera. So hat es mir mein Großvater beigebracht, als ich noch klein war. Seine Worte kommen mir in den Sinn: Auf diese Weise kannst du Momente, die nur für dich bestimmt sind, für immer festhalten. Es ist das erste Bild in meinem neuen Album.

  Ich mache mich auf den Weg die dunkle Straße entlang, die wie ausgestorben vor mir liegt. Außer meinen Schritten und dem leisen Keuchen, weil mein Koffer von Minute zu Minute schwerer wird, ist kein Geräusch zu hören. Als ich um die Ecke biege, sehe ich dort die Rücklichter meines Ubers.

  Der Fahrer, ein etwas mürrisch dreinblickender älterer Herr mit Baseballkappe, hebt den Koffer ohne jede Anstrengung in den Kofferraum.

  »Wo soll es denn hingehen?«, fragt er.

  »Zum Flughafen bitte«, sage ich mit klopfendem Herzen zum ersten Mal in meinem Leben.

  2 Rhys

  »So, Mr Bolton«, sagt Powell, einer der Wärter, »dann hoffe ich für Sie und uns, dass wir Sie hier nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

  Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich »Mr Bolton« genannt werde. Die letzten sechs Jahre war ich »Bolton« oder »52899«, Gefängnisinsasse des Pearley Juvenile Prison.

  Powell händigt mir eine alte Plastiktüte aus. »Ihre Sachen«, sagt er. In der Tüte befinden sich eine Jeans und ein T-Shirt – die Klamotten, die ich anhatte, als sie mich mit fünfzehn hier eingesperrt haben. Schon damals war mir beides eigentlich zu klein. Was ich jetzt damit soll, weiß ich nicht, aber ich nehme die Tüte brav entgegen und quittiere den Empfang.

  Powell eskortiert mich den langen Gang entlang, der neben diversen Hochsicherheitstüren und Schleusen den Trakt 2, in dem ich die letzten Jahre untergebracht war, vom Ausgang trennt. Metall- und Plastikröhren verlaufen an der Decke, und der gesamte Bau scheint zu summen.

  Tief im Innern des seelenlosen Gebäudes betätigt jemand einen Knopf. Es ertönt ein dröhnendes Warnsignal – das Zeichen, dass die Tür jetzt entriegelt ist. Sie öffnet sich automatisch, und ich trete hindurch. In die Freiheit. Das erste Mal seit sechs verfluchten Jahren. Die Sonne blendet mich, und ich muss blinzeln. Ich stehe auf dem asphaltierten Vorplatz des PJP und habe das Gefühl, es sollte irgendetwas Großes passieren. Die Welt sollte mich, Rhys Bolton, willkommen heißen. Aber die Welt ist nicht mehr das, was sie war, als ich mich mit fünfzehn von ihr verabschiedet habe. Sie will mich nicht, und ich weiß nichts über sie. Wir sind einander völlig fremd.

  Ich gehe einen Schritt und blicke dann noch einmal zurück. So richtig glauben kann ich es noch nicht. Aber tatsächlich, die Tür, durch die ich hinausgegangen bin, schließt sich in diesem Moment wieder – und ich stehe immer noch hier. Außerhalb der hohen Mauern, die jede Freude, jeden Traum ersticken. Draußen. Vermutlich sollte ich glücklich sein, mich verdammt noch mal federleicht fühlen. Aber ich fühle nichts. Ich merke nur, dass meine Jeans und der viel zu große Kapuzenpulli, die meine Sozialarbeiterin mir besorgt hat, zu warm sind für den kalifornischen Sommer. Aber in meine Sachen von damals, die ich als einzige Erinnerung an mein früheres Leben in der Hand halte, passe ich nun mal nicht mehr. Mit dem Jungen von damals habe ich nichts mehr zu tun. Innerlich wie äußerlich. Denn wenn man den Wichsern im PJP körperlich nichts entgegensetzen kann, wird man kaputt gemacht. Noch kaputter. Jetzt kann ich jedem Arschloch, das mir zu nahe kommt, den verdammten Schädel einschlagen.

  Obwohl ich weiß, wa
s meine nächsten Schritte sein sollten, stehe ich unschlüssig herum. Ich will mich nicht bei Amy melden. Das ist die Sozialarbeiterin mit dem »richtigen Riecher« für Kleidergrößen. Sie hat mir ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft besorgt und einen Job in einem Café, das »Leuten wie mir« eine zweite Chance gibt. Sie hat mir die Adresse ihres Büros aufgeschrieben, dort soll ich mich melden, wenn ich »draußen bin«. Aber ich habe keine Lust. Nicht auf Amy, nicht auf das Zimmer, nicht auf den Job. Ich will hier stehen und mich irgendwann auflösen. Komplett verschwinden. Dieses Leben ist nicht für mich. Für irgendjemanden, sicher. Aber nicht für mich. Für mich ist es eigentlich schon vorbei.

  Doch es gibt da eine Sache, die ich mir geschworen habe. Den einen Gedanken, der mich am Leben gehalten hat. Ein Bild steigt vor meinem inneren Auge auf. Es ist verschwommen, so lange ist es inzwischen her. Aber ich halte es fest, klammere mich daran. Und siehe da, meine Füße setzen sich in Bewegung. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Sohlen meiner zu kleinen Schuhe sehr dünn sind und der heiße Asphalt sich langsam in meine Fußsohlen brennt. Aber ich habe immerhin dieses eine Ziel. Und um das zu erreichen, muss ich wissen, wo er sie versteckt. Dafür brauche ich eine Internetverbindung. Und dafür brauche ich eine Bude. Und ich brauche einen Laptop, wofür ich wiederum den Job brauche. Also brauche ich Amy.

  Ich habe keinen mickrigen Cent für den Bus, der ohnehin nur einmal pro Stunde fährt, wie mir der Fahrplan verrät, auch wenn es schwer ist, etwas darauf zu erkennen, so vergilbt, wie er ist. Zu allem Überfluss hat jemand mit einem wasserfesten Filzstift seine hässlichen Initialen darüber verteilt.

  Also werde ich zu Fuß gehen. Der Weg führt mich durch meine alte Nachbarschaft. Durch unsere alte Nachbarschaft. Ich überlege, ob ich einen Umweg gehen soll, um unser Haus nicht sehen zu müssen, um die Leere, die ich fühle, nicht bestätigt zu sehen. Denn sie sind nicht mehr da.

  Die Neugierde siegt, und so mache ich mich auf den Weg an der heißen Straße entlang. Grillen zirpen laut in den Grasstreifen zu beiden Seiten. Es gibt keinen Fußweg, aber in dieser Gegend ist nicht viel Verkehr. Als ich die ersten Häuser erreiche, bin ich beinahe überrascht, wie abgefuckt es hier ist. In der Erinnerung habe ich meine Herkunft und mein trauriges Leben vermutlich verklärt. Die Fenster, sofern sie noch Scheiben haben, starren mich an wie schwarze Löcher. In den Vorgärten liegt Müll, der langsam von Unkraut überwuchert wird.